Eine »opera seria«, wie sie im Buche steht, aber mit reichlich kompositorischem Eigensinn. 16 Jahre war Mozart, als er mit seinem Vater zum dritten Mal in die lombardische Hauptstadt Mailand kam, um zum dritten Mal eine Oper für das Teatro Regio Ducale zu komponieren. 1770 hatte er mit Mitridate, Re di Ponto sein Debüt gegeben, 1771 folgte Ascanio in Alba. Lucio Silla (1772) hat mit der ersten Oper gemeinsam, dass die Titelpartie von einem Tenor gesungen wird. Das ist neu für die Opera seria, bis dahin gehörten die großen männlichen Partien den Kastraten. Da es noch keine richtige Tradition für Operntenöre gibt, hat der Kastrat Venenzio Rauzzini (später auch ein gefeierter Komponist) wenig Mühe, aus dem Gegenspieler Lucio Sillas, Cecilio, die eigentliche Hauptpartie zu machen. Auch das Sujet ist mit Mitridate verwandt: Schon 96 v. Chr. drängte Silla – oder Lucius Cornelius Sulla Felix, wie die meisten antiken Quellen schreiben – als Statthalter Kilikiens Mithridates VI. bis hinter den Euphrat zurück. Als Prokonsul war er 87 v. Chr erneut erfolgreich gegen den pontischen König.Während in Mitridate die kriegerische Auseinandersetzuzng mit den Römern tatsächich den geschichtlichen Hintergrund bildet, spielt die römische Expansionspolitik in Lucio Silla keine Rolle, auch wenn ein Kontrahent Sullas aus dem pontischen Krieg, Lucius Cornelius Cinna, als Freund Cecilios eine Hauptrolle einnimmt. Dieser Cecilio wird im Personenverzeichnis als verbannter römischer Senator bezeichnet. Mit Quintus Caecilius Metellus Numidicus, der sich wie Sulla im Jugurthinischen Krieg (111–105 v. Chr.) Verdienste erwarb, hat er den Namen und das Schicksal der Verbannung gemeinsam, allerdings hat Sulla mit seiner Verbannung nichts zu tun. Da Sulla in vierter Ehe mit Caecilia Metella Dalmtica verheiratet war, gibt es auch Interpretationen des Librettos, wonach Cecilio der Sohn Sullas ist. Giunia (lateinisch Iunia) ist nicht unbedingt als geschichtliche Figur zu sehen. Der Name sagt aber, dass sie aus dem Geschlecht der Junier stammt wie der Caesarenmörder Brutus. Eine Iunia prima genannte Frau aus dem Geschlecht der Junier war mit Publius Servilius Vatia, einem Weggefährten Sullas im römischen Bürgerkrieg 82 v. Chr. als dieser sich zum Diktator ausrief. Der Name Aufidios, des falschen Einfüsterers Sullas in der Oper, ist mehr oder weniger frei erfunden, überliefert ist der Name Aufidius erst aus dem 3. und 4. Jahrhundert, wo verschiedene Senatoren so genannt wurden. Es fehlt in der Aufzählung nun noch die sechste Partie – seit Metastasio hat eine opera seria, bzw. ein dramma per musica genau sechs Personen. Hier ist es die Schwester Sullas, Celia, die am Ende Teil der obligatorischen Doppelhochzeit wird. Sulla wuchs zwar mit zwei Schwestern auf, von denen aber nichts weiter bekannt ist, und die ganz bestimmt nicht den Namen des Geschlechts der Caelier trugen.
79 v. Chr. legte Sulla unerwartet seine Diktatur nieder und dankte ab. Als ob er es schon geahnt hätte, dass er dereinst in einer opera seria auftreten sollte. Der Machtverzicht am Ende, verbunden mit einer vorbildhaften Milde, ist ein beliebtes Motiv der metastasianischen Oper. Giovanni de Gamerra (1742–1802), der Hauslibrettist des Teatro Regio Ducale in Mailand seit 1771, stand ganz in der Tradition von Pietro Metastasio (1698–1782), dem Wiener Hofdichter seit 1729, und stand mit ihm auch in persönlichem Kontakt, den er bei Lucio Silla auch dafür nutzte, Korrekturen vornehmen zu lassen. Mozart war aus diesem Grund gezwungen, Teile, die er seit Erhalt des ersten Librettos komponiert hatte, neu zu komponieren. Hier zur Erinnerung das Schema der metastasianischen opera seria:
Drei Akte, Konzentration auf sechs Personen, keine komischen Einlagen,
Einhaltung der drei "aristotelischen Einheiten". Das typische
Intrigengeflecht geht so: A und B lieben sich gegenseitig. C jedoch liebt A auch
und macht Ansprüche geltend. D liebt B insgeheim und lässt keine
Möglichkeit aus, zu intrigieren, wird aber auch aufopfernd von E
geliebt, F ist der Joker und hat in jedem Libretto eine andere
Funktion. C ist oft der Herrscher, der aus einem verlorenen (oder gewonnenen) Krieg heimkehrt und sich neuen politischen Herausforderungen stellen muss. Am Ende kommt es nicht selten zu einer vollständigen Neuordnung, die aber nur durch Thronverzicht ermöglicht wird.
In Lucio Silla wären also A Giunia, B Cecilio, C Silla, D Celia, E Cinna, F Aufidio. Celia liebt allerdings weder Cecilio noch Cinna, sondern lässt sich aus Gründen von Macht und Ehre zur Heirat mit Cinna drängen. Neu an Gamerras Libretti ist der Einsatz des (offenbar in Mailand vorhandenen) Chors und die Tendenz, durch unmittelbar aufeinanderfolgende Arien, Accompagnato-Rezitative, Chöre und Ensembles, größere musikdramaturgische Einheiten zu schaffen, die das Einerlei von Secco-Rezitativ – Arie – Secco-Rezitativ – Arie … ablösen. In Lucio Silla kommt so das ganze dritte Bild des ersten Aktes ohne Secco-Rezitativ aus. Der musikalische Bogen spannt sich sogar über den Szenenwechsel hinweg, weil sich das Vorspiel zum Rezitativ des Cecilio am Grab des Marius unmittelbar an die das zweite Bild abschließende Rache-Arie Sillas anschließt. Das erste Bild des zweiten Aktes schließt mit den Arien der Giunia und des Cinna, die beide ein Accompagnato-Rezitativ haben und unmittelbar aufeinander folgen. Auch im zweiten Akt ist der Szenenwechsel vom zweiten auf das dritte Bild von einem Orchestervorspiel, das hier zu einem Chor auf dem Kapitol gehört, begleitet. Der Inhalt der Oper ist bei Zazzerino sehr schön und ziemlich ausführlich beschrieben, so kann ich darauf verzichten.
Die ersten beiden Akte haben je drei Bilder, der dritte zwei. Die Abfolge der Bilder ist durch die Möglichkeiten der barocken Kulissenbühne bestimmt. Das erste Bild des ersten Aktes ist eine »lange Bühne«, es stellt eine Park am Tiber dar mit vielen Bäumen und dem Quirinal mit einem Tempel im Hintergrund. Für die zweite Szene, das Zimmer der Giunia, wird die Bühne durch einen entsprechenden Prospekt auf »kurze Bühne« verkürzt, die Periakten in den Gassen werden einmal gedreht, damit aus den Bäumen Innenraum wird. Das dritte Bild ist dann wieder eine »lange Bühne«, das »große Grabmal« konnte in der Zwischenzeit hinter dem Prospekt mit dem Zimmer aufgebaut werden und die Periakten werden abermals gedreht, sodass sie jetzt Steinmauern zeigen. Die Abfolge im zweiten Akt ist nicht ganz so offensichtlich, daher bin ich hier vorsichtig mit der Zuordnung zu »langer« und »kurzer Bühne«: Ein Portikus mit militärischen Trophäen – Hängende Gärten – Kapitol. Alle drei kann man sich gut als »lange Bühne« vorstellen. Angesichts der Tatsache, dass nur auf dem Kapitol der Chor auftritt, neige ich dazu, die hängenden Gärten der »kurzen Bühne« zuzuordnen, also wieder die Abfolge lang–kurz–lang anzunehmen. Der dritte Akt ist dann wieder einfacher: der Vorraum des Kerkers ist auf jeden Fall ein intimerer Raum als der Saal, in dem am Schluss die Doppelhochzeit gefeiert wird.
Alle Arien sind »Abgangs-Arien«, d. h. sie stehen am Ende einer durch das Rezitativ definierten dramatischen Situation, in der ein Darsteller von der Bühne geht, vorher aber noch seinem Affekt Ausdruck gibt (Liebe, Rache, Sehnsucht etc.). Neu gegenüber dem Gewohnten (etwa in den Opern Händels, Caldaras und anderer Barockkomponisten) sind die dramatischen Aktschlüsse, die früher höchstens von zwei Personen bestritten wurden und kaum eine Finalwirkung hatten im modernen Sinn.
Schade eigentlich, dass die komische Oper Lucio Silla nur konzertant zur Aufführung bringt. Ein szenische Auseinandersetzung würde sich auf jeden Fall lohnen. Hier sehen Sie den Trailer von der Salzburger Aufführung 2013 mit Rolando Villazón. Dort wurde eine Arie von Johann Christian Bach eingefügt, eine, die bei Mozart fehlt, weil der für die Uraufführung vorgesehene Tenor nicht kam und kurzfristig durch einen anderen, wenig bühnenerfahrenen, ersetzt wurde. Johann Christian Bach vertonte das ursprüngliche Libretto von Giovanni de Gamerra zwei Jahre nach Mozart für Mannheim.
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