André Obey (1892–1975) studierte in Lille Jura uns Literatur. Unmittelbar danach wurde er zum Militärdienst eingezogen. Nach dem Waffenstillstand 1918 zog er nach Paris, wo er sich mit. Konzertkritiken und Sportreportagen durchschlug. 1920 schrieb er zusammen mit dem Kritikerkollegen und Dramatiker Denys Amiel ein Theaterstück mit dem Titel La souriante Madame Beudet, das im Jahr darauf von der »Groupe dramatique du Canard Sauvage«, einer freien Theaterkompanie im Paris zwischen den Kriegen, zur Uraufführung gebracht wurde. 1935 kam das Stück an die Comédie-Française und gehörte fortan zum französischen Standard-Repertoire. Schon 1922 jedoch interessierte sich die französische Filmemacherin Germaine Dulac für den Stoff und schrieb zusammen mit Obey ein Drehbuch. Der Film (deutscher Filmtitel: Madame Beudets sonniges Lächeln) gilt als einer der ersten feministischen Stummfilme. Die Kopie der schweizerischen Kinemathek mit einer von Manfred Knaak neu komponierten Begleitmusik ist hier bei Youtube zu finden. 1928 gewann André Obey mit dem autobiographischen Roman Le joueur de triangle (Der Triangelspieler) den renommierten »Prix Renaudot«. Das komplizierte und von Gewalt bedrohte Verhältnis der Geschlechter gehörte zu den bevorzugten Themen der Theaterstücke Obeys. Dreimal hat er den Don-Juan-Stoff bearbeitet (Dom Juan 1929, Le trompeur de Séville 1938 und L'homme de cendres an der Comédie-Française 1949). Die erste Fassung wurde allerdings in Frankreich zunächst nicht gespielt, sondern kam 1934 in Brüssel zu Uraufführung und wurde im gleichen Jahr auch in London gespielt, wo Obey bereits einige Erfolge zu verzeichnen hatte. Vénus et Adonis schrieb er 1928, 1956 übersetzte er für Jeanne Moreau Die Katze auf dem heißen Blechdach von Tennessee Williams. Das vielleicht bedeutendste Stück schrieb er 1931 mit Le viol de Lucrèce (wörtlich: Die Vergewaltigung der Lucretia).
Die Geschichte der Lucretia wird zuerst von Dionysius von Halikarnassos (ca. 54 v. Chr. – 8 n. Chr.) und Titus Livius (ca. 59 v. Chr. – 17 n. Chr.) erzählt. Er siedelt sie in der frührömische Geschichte an, zur Zeit des etruskischen Königs Tarquinius Superbus, der den Thron 534 v. Chr. dadurch erlangte, dass seine Geliebte Tullia ihren Vater, den gegenwärtigen König, ermordete. Sein Regime war für die Römer unerträglich und es endete mit seiner Verbannung und der Ausrufung der Republik. Titus Livius bringt den Aufstand in Zusammenhang mit der Vergewaltigung der Lucretia durch seinen Sohn, Sextus Tarquinius. Die Republik ist aber auch das Ergebnis großer Kämpfe innerhalb der Familie der Tarquinier. Lucius Iunius Brutus, der die Könige vertrieb, war ein Cousin von Lucius Tarquinius Superbus, seine Mutter war dessen Schwester. Auch der Ehemann der Lucretia, Lucius Collatinus Tarquinius gehörte dem Geschlecht an, allerdings einem verarmten Nebenzweig.
Die Vergewaltigung wird von Halikarnassos und Livius gleich erzählt: Sextus droht der standhaften Lucretia damit, sie als Ehebrecherin hinzustellen, indem er sie und einen Sklaven tötet und die beiden dann so liegen lässt, dass der Ehebruch evident wird. Darauf gibt sie sich ihm hin. Am nächsten Tag berichtet sie das Geschehene ihrem Vater und ihrem Mann, und obwohl beide sie von jeder Schuld reinwaschen, begeht sie Selbstmord, damit nicht ihr Vorbild andere Frauen dazu verführe, unter Drohung ebenfalls in einen Ehebruch einzustimmen. Die Vorgeschichte allerdings ist unterschiedlich erzählt. Bei Halikarnassos wird Sextus bei Collatinus und Lucretia einquartiert und verliebt sich in die schöne, tugendhafte Hausherrin. Bei Livius beschließen die Offiziere während der Belagerung von Ardea aus Langeweile, reihum alle ihre Frauen zu besuchen und zu schauen, was sie so machen. Alle außer Lucretia geben sich irgendwelchen Vergnügungen hin, nur sie spinnt noch spät nachts mit ihren Mägden Wolle. Das fordert Sextus heraus, der ihre Tugend auf die Probe stellen will. Er verschafft sich Einlass in das Haus des Collatinus und dringt dann nachts in das Gemach der Lucretia ein, wie auch bei Halikarnassos. Bei Publius Ovidius Naso (47 v. Chr – 17 n. Chr.), der die Geschichte der Lucretia in seinen Fasti, einem Festtagskalender in Versform, am 24. Februar, dem Fest des Regifugium, erzählt, erhält die bei Livius schon angedeutete Wette unter den adligen Offizieren, wessen Frau die tugendhafteste sei, noch mehr Kontur. Damit wird auch Collatinus mehr ins Geschehen hieningezogen, der durch die Wette eine Mitschuld auf sich zieht.
Während der Selbstmord Lucretias bei den antiken Schriftstellern als heldenhaf und tragisch dargestellt wird, keineswegs aber als Versuch eigene Schuld zu vertuschen, beginnt mit Augustinus und seiner De civitate dei 413 eine ganz neue Bewertung. Augustinus schrieb dieses Werk unter dem Eindruck der Plünderung Roms durch die Truppen Alarichs. Dabei war es auch zu Vergewaltigungen gekommen und vergewaltigte Frauen erwogen den Selbstmord – wie einst Lucretia. Dagegen wendet sich Augustinus, der Lucretia eine Mitschuld an der Vergewaltigung unterstellt. Sie habe dabei Lust empfunden und deswegen Selbstmord begangen, um nämlich die eigene Schamch auszulöschen. Nichts davon ist selbstverständlich in der klassischen Sage enthalten, bezeichnend aber ist es, dass ein Kirchenvater auf diese Interpretation kommt.
1594 erschien die epische Versdichtung The Rape of Lucrece von William Shakepeare, der das Beispiel Lucretias wiederholt in seinen Dramen zitiert, so u. a. in Titus Andronicus (1590–94), Macbeth (1599–1606) und Cymbeline (1609–1610). Shakespeares Lucrece (so der Titel auf dem Buchdeckel 1594), inspiriert durch Livius und Ovid, ist die Grundlage aller modernen Bearbeitungen des Stoffs. Im Programmheft der Uraufführung in Glyndebourne werden noch weitere Quellen für das Libretto von Ronald Duncan genannt: Nathaniel Lee, Thomas Heywood und F. Ponsard.
Thomas Heywood (nach 1570 – 1641) ist der Autor einer Tragödie The Rape of Lucrece, deren Erscheinungsjahr in der Regel mit 1608 angegeben wird. Es ist jedoch möglich, von ihm schon 1594 eine Dramtisierung des Shakespeareschen Gedichts in London gespielt wurde. Das Besondere an dem Text von 1608 – und das wiederum erinnert sehr an Shakespeare und seine Schauspieltruppe – sind die komischen Kommentare in Form von Songs des Valerius, die auf den Schauspieler, bzw. Sänger zurückgehen, der diese Figur spielte. Alle 19 Songs und Ballads in dieser Tragödie werden von Valerius gesungen. Heywood erzählt die ganze Geschichte von Aufstieg und Fall des Tarquinius, beginnend mit dem Mord Tullias an ihrem Vater.
Nathaniel Lee (ca. 1653 – 1692) war ein englischer Dramatiker, der mit der Obrigkeit in Streit geriet, die ihn für fünf Jahre in das berüchtigte Irrenhaus Bedlam Hospital steckte. Kaum war er als geheilt entlassen, starb er an einer Überdosis Alkohol. 1681 wurde Lucius Iunius Brutus, Father of His Country aufgeführt, allerdings nur drei Mal, einige Zeilen des Tarquinius konnte man auf Charles II. beziehen und führten zum Aufführungsverbot. Es war die gleiche Zeit, in der er zum wiederholten Mal das Parlament auflöste, diesmal aber endgültig, er regierte dann bis ezu seinem Tod 1685 allein. Erst 1784 wurden die Werke Lees gedruckt. Lucretia stirbt bei ihm am Ende des ersten Aktes mit den Worten »Revenge!« auf den Lippen. Der Rest der »tragedy« handelt vom Aufstand und der Gründung der Republik.
François Ponsard (1814–1867) ist ein französischer Dramatiker, der mit seiner Lucrèce einen großen Erfolg hatte. Er positionierte sich darin 1843 im Odéon mit dem klassischen Stoff als »Antiromantiker« gegen Victor Hugo, dessen Burgraves zur gleichen Zeit an der Comédie-Française durchfielen. Im dritten Akt von Ponsards Lucrèce tritt eine Sibylle (eine römisch-griechische Wahrsagerin) auf, die Sextus den Untergang prophezeit und Brutus als kommenden Konsul bezeichnet.
Von Obey übernahmen Duncan und Britten die Struktur des Dramas, wobei die vier Akte Obeys zu zwei verdichtet wurden. Von Obey übermnahmen sie auch die Idee eines kommentierenden Chors, vertreten durch zwei einzelne Schauspieler für den männlichen und den weiblichen Chor. Die Inspiration dafür bezog Obey nicht aus dem griechischen Drama, wie man meinen möchte, sondern aus dem japanischen Nô-Theater. Sie heißen auch nciht »Chor«, sondern »Récitant« und »Récitante«. Die Art der Kommentare sind bei Duncan und Britten allerdings ganz anders, heute vielleicht etwas befremdlich in ihrem christlich-frömmelnden Ton. 1946, unmittelbar nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, klang das vielleicht etwas anders, bestand ein Bedürfnis nach Tröstung gegenüber einer unbarmherzigen Geschichte von Krieg und Vergewaltigung.
Britten schrieb mit The Rape of Lucretia eine Kammeroper, für sehr kleines Instrumentalensemble, großer zwar als das Ensemble Strawinskys für L'histoire du soldat, aber aus ähnlicher Überzeugung: Den kriegsbedingten Mangel an musikalischen Kräften in einen Vorteil der Konzentration umzuwandeln. Die Uraufführung mit Kathleen Ferrier als Lucretia wurde zu einem großen Erfolg für den Komponisten. Schon zwei Jahre später wurde das Werk am Broadway produziert. An der Städtischen Oper Berlin inszenierte es Wolf Völker unter dem Titel Lucrezia 1958 mit Sieglinde Wagner in der Titelpartie.
Vor Britten war bereits Ottorino Respighi auf das Schauspiel von Obey aufmerksam geworden und bat seinen Librettisten Claudio Guastalla ein Libretto. Er war schon schwer von Krankheit gezeichnet, als er die Komposition begann. Der Einakter wurde posthum 1937 an der Mailänder Scala mit Maria Caniglia uraufgeführt.
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