Montag, 6. Oktober 2014

Die Essex-Verschwörung auf der Bühne

Jacques-François Ancelot (1794–1854) ist als Dramatiker heute weitgehend vergessen, nur Opernkennern ist der Name halbwegs geläufig. Denn er gehörte neben Mélesville (eigentlich: Anne-Honoré-Joseph Duveyrier, 1787–1865) und noch einigen anderen ebenso vergessenen Autoren von in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Paris populären Dramen zu den wichtigsten Anregern für die ittalienische und franzözische Oper der Generation unmittelbar vor Verdi. Er schrieb seine Tragödie Elisabeth d'Angleterre 1829. Schon 1833 diente sie als Vorlage für eine Oper von Saverio Mercadante, Il conte d'Essex, dessen Libretto Felice Romani schrieb. Ebenfalls nach einem Stück von Ancelot geschrieben wurde I puritani von Vincenzo Bellini (nach Têtes rondes et cavaliers, 1833).
Elisabeth d'Angleterre kombiniert die Essex-Verschwörung gegen Elisabeth I. von 1601 mit einer Liebesintrige, wie man sie der »virgin queen« wohl nicht ganz unberechtigt zuschrieb. Ebenfalls bereits 1829 hatte Donizetti die Oper Elisabetta al castello di Kenilworth geschrieben, die Elisabeths komplizierte Beziehung zu Robert Dudley, Earl of Leicester, dem Stiefvater von Robert Devereux, behandelt. Ein andere Episode aus dem Leben des Earl of Leicester behandelte Rossini schon 14 Jahre früher in seiner Elisabetta, regina d'Inghilterra.
Robert Devereux, 2. Earl of Essex, galt tatsächlich als Favorit der Königin. Dennoch heiratete er, ohne Elisabeth um Erlaubnis zu fragen; schwerer wiegen jedoch wohl einige Schlachten in Irland, die zu Verlusten führten und ein Waffenstillstand, den er zu Ungunsten Englands aushandelte. Er fiel in Ungnade, wurde nach London zurückbeordert und unter Hausarrest gestellt. Am 6. Februar 1601 scharte er eine kleine Anhängerschaft um sich und versuchte, die Herrschaft über London zu gewinnen, scheiterte jedoch kläglich und wurde als Verräter zum Tode verurteilt und am 25. Februar mit sechs weiteren Personen hingerichtet.
Alle Dramen und Opern um Elisabeth I. sind weit davon entfernt, ein genaues Geschichtsbild zu liefern, dichterische Freiheit erfindet Wendungen hinzu, die fern von der Realität sind. So auch die bedeutendste literarische Verarbeitung, Friedrich Schillers Maria Stuart (von Donizetti schon 1833 auf die Opernbühne gebracht), die eine direkte Begegnung zwischen Maria und Elisabeth ins Zentrum rückt, die in Wahrheit nie stattgefunden hat.
Die Essex-Verschwörung gehört in den letzten Lebensabschnitt Elisabeths, doch hat sie mit dem Ende ihrer Regierung wenig zu tun. Erst zwei Jahre später, 1603, wurde Elisabeth krank und starb bald – ohne vorher abgedankt zu haben. Bei Ancelot allerdings dankt sie am Ende der Tragödie ab, ganz in der Tradition der Libretti von Metastasio und seinen Nachfolgern, bzw. der Nachfolger der französischen »Klassiker« Corneille und Racine:
CECIL: Königin, wir respektieren Ihren Schmerz… aber, Herrin, / Ihr tragt eine Krone, das Volk verlangt nach Euch; / sein Schicksal ist an Eure kostbaren Tage gebunden: / die Tochter Heinrichs VIII. kann das nicht vergessen haben. ELISABETH: Wem erzählst Du etwas von der Größe der Herrschaft? / Sieh mich an Cecil!… Sehe ich aus wie eine Königin? / Alles ist vorbei: Geh! Ich habe keine Untertanen mehr. / Was soll ich mit euren Verträgen, euren Kriegen, euren Plänen? / Hier ist mein Thron… meine Regierung endet hier! CECIL: Wir fallen auf die Kniee! Lebt! (alle fallen auf die Knie) / ELISABETH: Steht auf! / Geht!… Der letzte Tag meiner Herrschaft gehört ihm: / Jakob ist König von England. Wendet euch an ihn. (Sie fällt in die Kissen.)
Ancelots Quelle ist einerseits die Histoire secrète des amours d'Elisabeth et du comte d'Essex von Jacques Lescène des Maisons (1787) und eine klassische französische Tragödie, Le comte d'Essex. Deren Autor ist jedoch nicht Racine und auch nicht Pierre Corneille (wie manchmal, auch in der Enzyklopädie des Musiktheaters, behauptet), sondern dessen 19 Jahre jüngerer Bruder Thomas Corneille. Der bleibt noch etwas näher bei der Historie, Elisabeth dankt nicht ab, ahnt aber ihr Ende:
ELISABETH: Ich fühle es, seinem Hinscheiden folgt das meine. / Stolz auf meine Ehre, regiere ich doch nur durch ihn, / […] Auf einem Schafott, Himmel! Entsetzlich! Das ist die Kehrseite! / Gehen wir, Graf, und sehen wir zu, dass wenigstens / ein ehrenhaftes Begräbnis die Ungerechtigkeit / der ruchlosen und unerbittlichen Hinrichtung wieder gutmacht. / Wemnn der Himmel sich von meinen Wünschen berührern lässt, / wird es nicht lange dauern, dass Sie mir Vorwürfe machen können.
Roberto Devereux ist die dritte der drei Opern Donizettis mit Elisabeth I. im Zentrum. Sie wurde wiederum für Neapel geschrieben und kam – im Gegensatz zu Maria Stuarda – dort 1837 auch zur Uraufführung. Sie war ein beträchtlicher Erfolg und wurde schnell überall in Italien nachgespielt. Am Théâtre-Italien in Paris wurde im Folgejahr mit Giulia Grisi und Giovanni Battista Rubini gespielt, war aber nur ein Achtungserfolg. Für diese Aufführung komponierte Donizetti die auch heute oft gespielte, aber nicht im Klavierauszug enthaltene Ouvertüre. 1844 schließlich am Kärntnertortheater in Wien spricht Donizetti, der die Aufführung dirigiert hatte, von »un piramidale fiasco«. So verschwand das Werk bald von den Spielplänen und wurde wie viele andere erst nach 1950 wiederentdeckt. 1970 brachte Beverly Sills Roberto Devereux an der New York City Opera heraus und stellte sich den ganz jungen Placido Domingo an die Seite. Etwa zur gleichen Zeit nahm Monserrat Caballé die Partie der Elisabetta in ihr Repertoire auf und seit 1994 gehört sie zu den Paraderollen von Edita Gruberova.

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