Als 1972 im Kröner Verlag Stuttgart das Shakespeare-Handbuch herauskam, behaupteten die Autoren noch, dass von allen Bühnenstücken Shakespeares mindestens eine Opernfassung existiert, von allen außer Titus Andronicus und The Two Gentlemen of Verona. Dass John Laurence Seymour im Kapitel »Shakespeare und die Musik« nicht vorkommt, ist formal in Ordnung. Sein Bühnenstück Two Gentlemen of Verona von 1937 ist eine Operette. Auch die im »New Grove Dictionary of Opera« erwähnte Oper des tschechischen Komponisten František Gregor Emmert (*1940) ist sonst kaum aufzufinden. Es ist Möglicherweise ein Jugendwerk, das der Komponist später zurückgenommen hat. Seither sind mindestens zwei Musicals (oder »Rock Operas«) dazu gekommen. Auch Titus Andronicus gibt es inzwischen in musikalischer Form, zwei amerikanische Komponisten sind dabei, Ian McAndrew und Brian Brewer, und von André Werner wurde 2007 in Osnabrück Lavinia A. uraufgeführt, eine Oper, zu der er, wie könnte es anders sein, durch Anatomie Titus / Fall of Rome von Heiner Müller angeregt wurde.
Also stellen wir fest: Den Shakespeare gibt es inzwischen komplett auf der Opernbühne. The Tempest und A Midsummer Night's Dream wetteifern darum, die meisten Komponisten angeregt zu haben. Nun ist es aber auch so, dass nicht jeder Oper, die den Titel mit einem Werk Shakespeares gemeinsam hat, dieses auch als Hauptquelle zugrunde liegt. Das haben wir bei Otello von Gioacchino Rossini gesehen. Manchmal haben die Librettisten und Bearbeiter nur die Vorlagen von Shakespeare auch zu Rate gezogen, manchmal haben sie sich ganz auf andere Quellen gestützt. Viele Stücke von Shakespeare gehen auf ältere Bühnenwerke oder auf Novellen zurück. Ein Autor, von dem er mehrfach Stoffe bezog, ist Matteo Bandello (ca. 1480–1562). Die berühmteste Tragödie darunter ist Romeo and Juliet. Auch John Webster bediente sich bei Bandello bei seiner The Duchess of Malfi. Der erste Autor, der die Geschichte von Romeo und Julia, die tragisch Liebenden, die zwei verfeindeten Familien angehören, in Verona ansiedelte, ist Luigi da Porto (1485–1529). Die italienischen Vorlagen gelangten über Arthur Brooke, einen englischen Dramatiker und Übersetzer, von dem nur bekannt ist, dass er 1563 auf See starb, zu Shakespeare.
Romeo and Juliet war eines der ersten Werke, die nach dem Verbot aller Schauspiele durch die Puritaner in der Restaurationszeit ab 1662 wieder gespielt wurden. Natürlich in sehr starken Bearbeitungen, manchmal sogar als Tragikomödie mit glücklichem Ausgang. Auch Garrick und Kean spielten eine vom Original sehr stark abweichende Fassung und erst 1845 wurde in England wieder auf das Original zurückgegriffen und zwar auf Betreiben einer amerikanischen Schauspielerin, die den Romeo spielte. Das ist überhaupt für das 19. Jahrhundert typisch, dass Frauen Männerrollen in Shakespeares Werken übernahmen, es gibt auch berühmte weibliche Hamlets. So konnten sie Bein zeigen, denn als Männer durften sie Strumpfhosen tragen, als Frauen musste alles züchtig mit Röcken bedeckt sein. So hat sich die Praxis umgedreht gegenüber Shakespeares Zeit, wo nur Männer auftreten durften, also auch die Frauenrollen von Männern gespielt wurden.
Romeo und Julie von Georg Benda (1776) ist die erste Oper, die im »New Grove Dictionary of Opera« als Vertonung der Tragödie von Shakespeare genannt wird. In der Aufzählung kommt mit gutem Grund I Capuleti e i Montecchi nicht vor, das Libretto von Felice Romani, das 1825 von Nicola Vaccaj und 1830 von Vincenzo Bellini vertont wurde. Es hat mit Shakespeare nur mittelbar zu tun, die Vorlage ist ein Drama von Luigi Scevola (1770–1819). Sehr viel näher an Shakespeare liegt die Vertonung von Charles Gounod. Es lohnt sich aber auch einige Werke des 20. Jahrhunderts näher zu betrachten, von Boris Blacher etwa, oder von Heinrich Sutermeister.
Eine besondere Stellung haben Shakespeare-Paraphrasen, wie sie im 19. Jahrhundert in der Prosa aufkamen, »...auf dem Lande«. Von Ljeskow gibt es die Lady Macbeth des Mzensker Kreises, von Gottfried Keller Romeo und Julia auf dem Dorfe. Beides ist auch auf die Opernbühne gekommen, Ljeskow durch Dmitri Schostakowitsch, Keller durch Frederick Delius. Auch West Side Story von Leonard Bernstein gehört in die Reihe der Shakespeare-Paraphrasen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.