Montag, 21. Oktober 2013

Falstaff, so leicht, so schwer

Da gibt es nun eine Oper, die alle Superlative auf sich zieht: die letzte Oper Verdis, die einzige komische Oper des Komponisten (von einem nicht unbedingt als voll gelungen zu bezeichnenden frühen Versuchs), die knappste Form, die klarste Musik, usw., aber es fällt doch schwer, darzustellen, warum es sich um ein so besonderes Werk handelt. Verdi hat rein gar nichts neu erfunden für diesen dritten (eigentlich vierten) Annäherungsversuch an den Dramatiker, den er Papà zu einen pflegte. Mit Macbeth hatte seine Auseinandersetzung mit dem englischen Dramatiker 1847 begonnen. Fast zwei Jahrzehnte dauerten danach seine Versuche, für King Lear eine Form zu finden. Doch erst nach 40 gelang eine neue Shakespeare-Oper mit Otello. Und war schon dieses Werk eigentlich ein Nachsatz zu einem umfangreichen Opernschaffen, so kostete er jetzt seinen ganzen Ruhm aus und ließ sich zu gar nichts verpflichten. Der Verleger Ricordi musste Unsummen ausgeben, ohne eine Gewähr zu haben, dass der Komponist das Werk überhaupt vollenden würde. Natürlich sagte ihm sein Instinkt, dass die Investition sich lohnen würde, aber eine Sicherheit gab es nicht.
Mit Arrigo Boito, der ihm bereits bei der Neufassung der Oper Simon Boccanegra als Librettist zur Hand gegangen war, hatte Verdi endlich einen Mitautor gefunden, der ihm ebenbürtig war. Boito seinerseits hatte bereits früher seine musikalischen Ambitionen unterdrückt, als er nach seiner ersten Oper Mefistofele, für die er den Text und die Musik verfasst hatte, ein Libretto für den hochgeachteten Lehrer und Direktor des Koservatoriums Amilcare Ponchielli schrieb. La gioconda (auch nach wie im Repertoire der Deutschen Oper Berlin und daher vielleicht demnächst Gegenstand der Zehlendorfer Operngespräche) schrieb er zwar noch unter einem Pseudonym, vielmehr einem Anagramm, Tobia Gorrio, aber jetzt, wo der berühmteste lebende Komponist seine Dienste als Librettist begehrte, bekannte er sich zu seinem Namen. Eine umfangreiche Korrespondenz zu beiden Werken, Otello und Falstaff, zeugt von der ungeheuren künstlerischen Energie, die aus der Zusammenarbeit des Komponisten mit seinem Librettisten schlug.
Auf den ersten Blick sieht die Partitur des Falstaff so aus, als hätte Verdi hier eine Form gefunden, die Wagners Musikdramen nahesteht, ohne sie nachzuahmen. Jedes der sechs Bilder ist in einer Art und Weise durchkomponiert, die keine konventionellen Arien, Duette, Terzette etc. mehr erkennen lässt. Die Zusammenfassung größerer dramatischer Einheiten zu musikalischen Abschnitten ohne applausheischenden Schlussformeln ist indessen keineswegs eine Erfindung Wagners. Meyerbeer hat damit ebenso experimentiert wie Donizetti und Bellini in ihren für Paris geschriebenen oder zumindest von der französischen Oper beeinflussten Werken. Auch in früheren Werken Verdis machte sich die Tendenz bemerkbar, dass Introduktionen und Finali einen immer größeren Raum einnahmen. So ist das erste Bild in Un ballo in maschera eine einzige musikalische Einheit, in der zwar kurze Solonummern wie die Auftrittsarie des Renato Platz finden, die jedoch in ihrem Duktus nie unterbrochen wird. Betrachtet man Falstaff (oder auch Otello) näher, sieht man, dass die alten Formen der Oper keineswegs verlassen wurden, sondern in äußerster Konzentration als Bestandteil der neuen Großform aufgehen. Diese Mimiaturisiung der Opernformen weist weit ins Zwanzigste Jahrhundert voraus, etwa zu den Opéras minutes eines Darius Milhaud.

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