Montag, 11. März 2013

Der fliegende Schwede auf Shetland

Vielleicht ist des die unbekannteste bekannte Oper oder die bekannteste unbekannte. Jedenfalls hat Richard Wagner in seinen autobiografischen Werken dafür gesorgt, dass die Welt auch noch zwanzig, dreißig, fünfzig, jetzt schon hundertsiebzig Jahre nach der Uraufführung noch von dem Vaisseau fantome spricht, der Oper, die ein unbekannter französischer Komponist nach seinem Libretto des Fliegenden Holländers geschrieben hat. Wagner schreibt zwar nicht ausdrücklich, dass Louis Dietsch – den er an einer anderen Stelle als einen der Verantwortlichen für seinen Tannhäuser-Misserfolg schmäht – den gleichen Text vertont habe, wie er, aber er erwckt diesen Eindruck. Die Wirklichkeit ist allerdings viel komplizierter. 1839 floh Wagner vor seinen Gläubigern in Riga über London nach Paris, wo er sein Glück suchte. Einen Kompositionsauftrag konnte er nirgendwo ergattern, er musste sich mit Kopistenarbeit – und natürlich auch wieder geliehenem Geld – über Wasser halten. Meyerbeer war sehr freundlich zu ihm, die Verleger, die Operndirektoren, aber konkret mit einer Aufführungsmöglichkeit helfen konnten oder wollten sie nicht. Auch Léon Pillet, 1840 noch Co-direktor der Opéra, ab Oktober 1841 alleiniger Leiter der ehrwürdigen und geldmächtigen Institution, schien eine gewisse Sympathie für den jungen Komponisten zu haben, denn er ließ sich durchaus auf seine Pläne ein, machte ihm aber klar, dass er mindestens vier, fünf Jahre warten müsse, bis er mit einem Kompositionsauftrag rechnen könne. Wagner schilderte ihm seine wirtschaftliche Not offenbar so plastisch, dass er sich auf einen sehr ungewöhnlichen Handel einließ. Er gab ihm 500 Francs für die Prosaskizze Der fliegende Holländer, die er dann von jemand anderem komponieren ließ. Es ging also nicht um das Copyright eines Librettos, sondern nur um die Erlaubnis einen Stoff zu vertonen, noch dazu einen Stoff, den Wagner nicht einmal selber erfunden hatte, sondern der von Heinrich Heine überliefert war. Wagner musste sich nicht einmal verpflichten, selbst auf die Komposition zu verzichten.
Pillet gab Wagners Szenario seinem Freund Paul Foucher (1810–1875), einem Dramatiker, der seit 1830 eine Reihe von recht erfolgreichen Bühnenstücken herausgebracht hatte, die alle dem romantischen Ideal Victor Hugos huldigten und von den Klassizisten mit Eugène Scribe an der Spitze bekämpft wurden. Darunter befand sich auch Dom Sébastien de Portugal, aus dem später eine von Donizetti komponierte große Oper werden sollte. Die Umarbeitung zum Libretto nahm ausgerechnet Eugène Scribe vor. Foucher aber wollte schon lange ein Libretto schreiben, jetzt bekam er Gelegenheit durch Pillet. Er zog sich noch einen zweiten Autor hinzu, Henri Révoil, von dem nicht viel mehr bekannt ist, als dass er insgesamt an zwei Libretti beteiligt war.
Ob Foucher und Révoil überhaupt in Erwägung gezogen haben, Wagners Skizze umzusetzen, ist fraglich. Sie versenkten sich in das Sujet und zogen andere Quellen hinzu, was durch die Unterschiede zwischen Wagners Der fliegende Holländer und Le Vaisseau fantôme sehr deutlich wird. Das fängt mit dem Titel an, der in Wagners Vertrag und Skizze noch Le Hollandais volant heißt. Le Vaisseau fantôme ist der ins französische übersetzte Titel eines englischen Romans, The Phantom Ship von Frederick Marryatt, erschienen 1839 und auch schon sehr bald ins Französische übersetzt. Auch der ungewöhnliche Name Scriften stammt eindeutig aus dem Roman, wenngleich es natürlich auch einige große Unterschiede gibt. Vor allem aber kannten die Autoren Wagners Quelle, Heinrich Heines Reisebilder, die 1833 in französischer Sprache erschienen waren. Möglicherweise kannten sie auch das Puppenspiel, das Heine in seinen Memoiren des Herrn Schnabelewopski beschreibt. Heine behauptet, er habe das Puppenspiel in Amsterdam gesehen, da ist es allerdings nicht nachgewiesen, sehr wohl aber in London.
Fast ein Jahr arbeiteten Foucher und Révoil an dem Libretto, ehe Pillet sich für einen Komponisten entschied. Wagner hatte sich in der Zwischenzeit längst dafür entschieden, die Oper doch selbst zu schreiben und arbeitete parallel an seiner Komposition. Wenn Wagner nun in seinen letzten Wochen in Paris davon erfahren hat, wer seinen Stoff für die Opéra vertont, dann musste er wirklich verzweifeln: es war ein Komponist, der noch nie eine Oper geschrieben hatte; ein Kirchenkomponist, der sich öffentlich über die »Theatralisierung« der Kirchenmusik erregte und seinen »reinen« Stil dagegen setzte – mit einigem Erfolg allerdings, einige seiner 24 Messen wurde sehr gelobt. Louis Dietsch (1808–1865) war Kapellmeister von St. Eustache, wirkte aber auch als Kontrabassist am Théâtre-Italien, später an der Opéra, wo er inzwischen Chorleiter war. Später ist er auch als Dirigent in Erscheinung getreten, in zwei Fällen allerdings ist das negativ aufgefallen, zuerst bei der Tannhäuser-Aufführung, ein paar Jahre später bei der Neueinstudierung von Verdis Les vêpres siciliennes, wo ihm nicht gelang, das rebellierende Orchester (sie hatten keine Lust zum Probieren) im Zaum zu halten, was in letzter Konsequenz zu seiner Entlassung führte.
Louis Dietsch war also ein genau so großes Risiko als Opernanfänger, wie es Wagner gewesen wäre, warum also gab Pillet Wagner die Chance nicht? Das Risiko potenzierte sich dadurch, dass er außer für die Partie der Minna (das ist die Partie, die der Senta bei Wagner entspricht) kein angemessenes Ensemble zur Verfügung hatte. Troïl (die Partie entspricht dem Holländer bei Wagner) wurde von einem Anfänger gesungen und auch die anderen Partien waren nicht besonders gut besetzt, wenn man den Kritiken von damals Glauben schenken darf. Die Kritiker befassten sich fast ausschließlich mit den Sängern, bemängelten auch die Ausstattung und waren allgemein unzufrieden. Nur Hector Berlioz setzt sich überhaupt mit der Komposition auseinander und stellte vor allem den Doppelchor im zweiten Bild des ersten Aktes als besonders gelungen heraus. Wenn andere auf den Komponisten zu sprechen kamen, bemängelten sie, dass einige Arien zu lange dauern würden. Das gibt aber eigentlich keinen Sinn, denn im Vergleich zu anderen französischen Oper der Zeit ist Le Vaisseau fantôme ein besonders konzentriertes und kurzes Stück. Es ist an der Zeit, dass es der Vergessenheit entrissen wird. Nach den elf Aufführungen 1842/43 in Paris wurde es nämlich nicht wieder aufgeführt. Am 4. Juni kommt es von der Deutschen Oper Berlin im Konzerthaus zur Aufführung.

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