Fast zwanzig Jahre arbeitete Giacomo Meyerbeer an seinem letzten großen Werk, dessen Uraufführung er nicht mehr erlebte. Eine doppelte Problematik erwächst genau daraus: 1. merkt man dem Werk an, dass die einzelnen Teile nicht zusammenhängend komponiert worden sind und 2. gibt es keine Fassung »letzter Hand«. Dass der Komponist gleich nach Beginn der Proben starb, ist fatal gerade für die Form der »(grand) opéra«, denn gerade die Möglichkeit, so lange zu probieren, bis alle Autoren – Komponist, Librettist, Bühnenbildner, Kostümbildner, Choreograf – mit dem Ergebnis so zufrieden waren, dass man das Werk der Öffentlichkeit präsentieren konnte, zeichnete die »Académie royale (jetzt, 1865: impériale) de musique« aus, die während des größten Teils des 19. Jahrhunderts in der Salle Le Peletier Opern produzierte. Nicht nur der Komponist fehlte in diesem Falle, der Librettist Eugène Scribe war schon 1861 gestorben und Meyerbeer hatte Charlotte Birch-Pfeiffer, die Übersetzerin seiner Werke, gebeten einzuspringen. Sie schrieb nach seinen Wünschen Ergänzungen, die dann wiederum ins Französische übersetzt werden mussten.
Vor nicht allzu langer Zeit haben wir uns mit Jean-Philippe Rameaus Oper Les Indes galantes befasst, deren vier Akte zwar an vier verschiedenen exotischen Schauplätzen spielen, nie jedoch in Indien. Bei Meyerbeers Africaine ist es ähnlich, keiner der fünf Akte spielt in Afrika. Die ersten beiden spielen in Portugal, der Rest vor und auf einer Insel vor Indien. Dafür ist allerdings Meyerbeer nicht verantwortlich zu machen, er hatte sich den Titel Vasco da Gama gewünscht, was von den Nachlassverwaltern unter Führung des belgischen Musikhistorikers und Komponisten François-Joseph Fétis jedoch nicht respektiert wurde, weil der andere Titel längst publik gemacht worden war, zu einer Zeit, als die Handlung tatsächlich noch in Afrika endete. Im ersten Entwurf von 1837 nämlich war die Sopranpartie der Gunima tatsächlich eine afrikanische Prinzessin. Cornelie Falcon, die überragende Valentine in der Uraufführung von Les huguenots war für diese Partie vorgesehen. In diesem Stadium der Arbeit war Vasco da Gama noch gar nicht ins Spiel gekommen, Gunima (oder Sélica auch schon jetzt aber mit »c«, nicht mit »k«) liebte einen portugiesischen Seemann namens Fernand, was umso mehr erstaunt, als Scribe schon damals einige seiner größten Erfolge als Librettist gerade damit hatte, dass er eine typische Opernhanndlung mit den Ingredienzien Liebe, Eifersucht, Rache, Martyrium, Tod mit einer historischen Figur oder zumindest einem historische Ereignis verband: La muette de Portici (1828, Komponist D. F. E. Auber) mit dem Fischeraufstand im Juli 1647 in Neapel, Gustave III ou Le bal masqué (1833, Komponist ebenfalls Auber) mit der Ermordung des schwedischen Königs am 16. März 1792 und schließlich Les huguenots (1836, Komponist Meyerbeer) mit der »Bartholomäusnacht« im August 1572. Kein Wunder, dass sich Meyerbeer bald von dem Sujet abwandte und lieber die Arbeit an Les anabaptistes vorantrieb, woraus Le prophète hervorging, die Oper die sich um den »Täuferkönig« von Münster Johann Bockelson alias Jan van Leiden dreht. Beim zweiten Anlauf für L'africaine1851 brachte Meyerbeer dann den portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama ins Spiel als er dem Librettisten empfahl, die Oper auf eine historische Grundlage zu stellen.
Als zusätzliche Vorlage, mit der sich Meyerbeer nun befasste, diente das Versepos Os Lusíadas, das Luís de Camões 1572 veröffentlichte und in dem er, wie Homer in der Ilias und der Odyssee Odysseus, Vasco da Gama zum Helden der Literatur machte. Camões selbst ist übrigens auch zum Opernhelden geworden. In Gaetano Donizettis französischer Oper Dom Sébastien spielt er schon 1838 eine große (Bariton)-Rolle (Libretto: Eugène Scribe) und der Mecklenburger Friedrich von Flotow komponierte 1843 die opéra comique L'esclave de Camoëns, die im deutschen Sprachraum später unter dem Titel Indra, das Schlangenmädchen bekannt geworden ist.
Die Aufführung in Chemnitz folgt der kritischen Neuausgabe, mit der ich mich leider noch nicht befassen konnte. Der Titel ist jetzt endlich der, den Meyerbeer auch wollte, Vasco da Gama. Bald soll eine Aufnahme bei cpo erscheinen. Bis dahin sind wir mehr oder weniger auf eine über vierzig Jahre alte Produktion des War Memorial Opera House San Francisco angewiesen. 1972 sangen dort Shirley Verrett und Placido Domingo Sélika und Vasco da Gama, Norman Mittelman war Nelusko. Einige Jahre später ist die Inszenierung von Lotfi Mansouri von Brian Large aufgezeichnet worden und liegt inzwischen als DVD vor. Außerdem gibt es natürlich unzählige Einzelaufnahmen der Tenorarie »Ô Paradis« von Caruso über Gigli und Martinelli, di Stefano und Corelli bis zu Ben Heppner haben sie alle lyrischen und »lirico spinto« Tenöre aufgenommen, darunter sehr viele, die die Partie niemals auf der Bühne gesungen haben.
Couleur locale, Exotismus, Orientalismus, das sind die Begriffe, mit denen wir uns (erneut, denn sie spielen immer wieder eine Rolle in der Oper des 19. Jahrhunderts) befassen wollen. Meyerbeers letzte Oper hat viele Komponisten inspiriert und ermutigt. So etwa ist Verdis verlöschender Aida-Schluss wenn auch keine direkte Nachahmung von Sélikas Verdämmern unter dem Manchinelbaum, so doch von diesem beeinflusst. Eine große Herausforderung für jede Inszenierung der Oper ist der dritte Akt, der auf einem Schiff spielt, das in einen Sturm gesteuert wird. Schon die Uraufführung geriet spektakulär wenngleich von einigen Rezensenten kritisiert. Die Szene blieb den Besuchern jedenfalls lebhaft in Erinnerung und wurde später oft zitiert, um hervorzuheben, was Bühnentechnik alles vermag.
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