Sonntag, 18. November 2012

Die Liebe zu den drei Orangen

Zwei der bedeutendsten Opernwerke der 1920er-Jahre gehen auf Theaterstücke von Carlo Gozzi zurück, Turandot von Giacomo Puccini und L'amour des trois oranges von Sergej Prokofjew. Wie man über die korrekte Schreibweise des Namens lange debattieren könnte, könnte man auch für den Titel verschiedene Varianten aufzählen. Sergej wird manchmal auch mit »i« am Ende geschrieben, in Romanischen Sprachen gibt es auch die Schreibweise mit einem eingefügten »u« (Sergueï) und der Nachname wird im englischen Sprachraum meist Prokofiev geschrieben – und Die Liebe zu den drei Orangen wurde zumindest im englischen Sprachraum zur Uraufführung gebracht, am 30. Dezember 1921 in Chicago, in französischer Sprache, deshalb der »Originaltitel« weiter oben. Im Französischen und im Deutschen las man früher gelegentlich auch Prokofieff. Die korrekte wissenschaftliche Transliteration wäre Sergej Sergeevič Prokof'ev, daran hält sich aber sowieso keiner.
1761 war die Komödie L'amore delle tre melarance die erste einer Reihe von »Fiabe teatrali«, die Carlo Gozzi veröffentlichte. In dieser Reihe sollten außer Turandot in den folgenden zwei Jahren noch Il re cervo (von Hans Werner Henze für König Hirsch verwendet) und La donna serpente (diese diente Richard Wagner als Vorlage für Die Feen) folgen. Gozzi war der große Gegenspieler von Carlo Goldoni. Beide beriefe sich auf die Tradition der »Commedia dell'arte«, das traditionelle Improvisationstheater reisender Schauspieltruppen. Goldoni versuchte dies in eine neue bürgerliche Form zu bringen, bestand auf festgelegten Texten und gab seinen Stücken eine »Moral«. Er achtete auf einen realistischen Darstellungsstil und plausible, nachvollziehbare Handlungen. Gozzi hingegen nutzte die anarchistische Kraft der Improvisation, gab den traditionellen Figuren Raum zur spontanen Ausschmückung und holte seine Stoffe nicht in der bürgerlichen Welt der Gegenwart, sondern in den Stoffen von Tausendundeine Nacht und anderen Märchensammlungen, in denen Übersinnliches, gute und böse Zauberer vorkommen. Kein Wunder, dass Wsewolod Meyerhold 1913/14 sich intensiv mit Gozzi zu beschäftigen begann. Auch ihm ging es um ein antibürgerliches, anarchisches Theater, das die Figuren aus der Bewegung und nicht aus der Psychologisierung entwickelte.
Gozzis Titel ins Russische übersetzt, Ljubov k trem apelsinam, verwendete er sogar als Titel für eine Zeitschrift, die er zwei Jahre lang herausgab, und in der er sein theatralisches System der »Biomechanik« veröffentlichte. Dabei handelte es sich um eine Technik für den Schauspieler, die dem, was wir bis heute gewohnt sind, diametral entgegengesetzt ist. Der Schauspieler muss sich nicht zuerst in die Figur einfühlen und daraus die Bewegungen entwickeln, die er dann ausführt, sondern der Regisseur Meyerhold gibt ihm bestimmte Körperhaltungen vor, aus denen sein Fühlen hervorgeht. 1914 inszenierte Meyerhold auch in St. Petersburg in seinem Theatersudio eine Revue nach Gozzis L'amore delle tre melarance.
Das alles ist nicht ganz unwichtig für das Verständnis der Oper von Prokofjew, die vor allem eines nicht ist: ein Theaterstück, das den Zuschauer im Sinne von Schillers »Moralischer Anstalt« beeinflussen und bessern will.
Mit acht Jahren sah Prokofjew in Moskau zum ersten Mal eine Oper und komponierte sogleich selbst eine, mit 13 Jahren begann er sein Musikstudium in Petersburg. Er war nicht nur ein begabter Komponist, sondern auch ein herausragender Pianist. Mit 21 Jahren, noch als Student, soielte er die Uraufführung seines ersten Klavierkonzertes in Moskau, das er bei seinem Studienabschluss im folgenden Jahr auch in Petersburg interpretierte. Die erste große Oper, Der Spieler nach Dostojewski, sollte 1917 in Petersburg, inszeniert von Meyerhold, uraufgeführt werden. Die Februarrevolution verhinderte das. In der Folge der Oktoberrevolution 1918 flieht Prokofjew über Japan in die USA. 1919 erhält er von dem italienischen Dirigenten Cleofonte Campanini, Direktor der Chicagoer Oper, den Auftrag für die Komposition einer neuen Oper. Campanini war sofort begeistert, dass Prokofjew eine Oper nach Gozzi komponieren wollte. Durch den plötzlichen Tod Campaninis zögerte sich die Aufführung ein wenig hinaus, aber auch seine Nachfolgerin, die berühmte Sopranistin Mary Garden, begeisterte sich schnell für das Werk. Prokofjew schrieb das Libretto selbst nach Gozzis Vorlage und den Ideen Myerholds. Doch eine Aufführung in russischer Sprache kam in den USA nicht in Frage. Da Prokofjew besser französisch als italienisch sprach, einigte man sich darauf das Libretto in diese Sprache zu übersetzen.

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