Dienstag, 17. Januar 2012

Zum Semesterbeginn

Die Premiere Tancredi steht an der Deutschen Oper Berlin unmittelbar bevor. Da wir im letzten Semester nicht mehr dazu gekommen sind, geht es jetzt unmittelbar damit los. Rossini hatte seine ersten Erfolge als Komponist mit musikalischen Komödien, einaktigen »farse« und zweiaktigen »dramme giocose«, also Buffo-Opern. Von den ersten zehn vollständigen Bühnenwerken haben nur drei einen ersten Stoff: die am Anfang des Studiums (mit 14 Jahren) entstandene Oper Demetrio e Polibio, die Fasten-Oper Ciro in Babilonia (für die Fastenzeit war in manchen Städten ein biblischer Stoff vorgeschrieben, bei dieser Oper handelt es sich um die Geschichte von Belsazar) und Tancredi, die 10. Oper, die zweieinhalb Wochen vor Rossinis 21. Geburtstag im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde. Ohne durchschlagenden Erfolg, muss man anfügen, denn die beiden ersten Aufführungen wurden wegen Unpässlichkeiten von Sängerinnen im 2. Akt abgebrochen. Erst die zweite und dritte Fassung des Werks für Ferrara bzw. Mailand brachten den entscheidenden Erfolg, der bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts anhielt. Auch Richard Wagner muss das Werk gekannt haben, vermutlich hat er es als Kapellmeister auch dirigiert, jedenfalls spielt er in den Meistersingern von Nürnberg darauf an.
Tancredi ist ein mittelalterlicher Stoff. Die Oper spielt laut Libretto in Syracus. Das ist ein beliebter Ort, schon bei Shakespeare. Allerdings ist es da meist das Syracus der Antike, wo der griechische Mathematiker Archimedes lehrte und starb. Hier geht es um die von Normannen, Byzantinern und Sarazenen umkämpfte Hafenstadt Siziliens. Und es gilt zuerst ein Missverständnis aufzuklären: es geht um einen Tankred, der nicht mit Tankred von Tiberia zu verwechseln ist. Also es geht nicht um den schon von Monteverdi besungenen Kreuzfahrer, der sich nach Tassos Epos Gerusalemme liberata in eine muslimische Kämpferin verliebt. Die Vorlage Rossinis ist Voltaires Tragödie Tancrède, die schon Goethe so fasziniert hat, dass er sie übersetzte und in Weimar zurAufführung brachte. Voltaire seinerseits ließ sich von Ariost inspirieren, dem anderen großen italienischen Dichter der Renaissance. In dessen Orlando furioso wird die Geschichte von Ginevra erzählt, einer schottischen Prinzessin, die wegen Landesverrats zum Tode verurteilt wird. Aus dieser schottischen Prinzessin wird bei Voltaire Aménaïde, die Tochter des Chevaliers Argire, deren Heirat mit dem Mauren Solamir Frieden bringen soll. Gemäß Voltaire – und so ist es in das Libretto von Gaetano Rossi übernommen – spielt sich das alles im Jahre 1005 ab. In der Zeit war Sizilien noch fest in arabischer Hand, erst 1038 eroberte der byzantinische General Maniakes Syracus und 1086 geriet sie nach langer Belagerung durch Roger I. unter normannische Herrschaft. Das alles ist gut zu wissen, wenn man Voltaires feinsinnige Tragödie liest, in der Oper allerdings fällt durch Verkürzung so einiges unter den Tisch und man tut gut daran, es eher zu vergessen und anzunehmen, Solamir (der selbst gar nicht auftritt, weder im Schauspiel, noch in der Oper) sei der Angreifer und das Ganze spiele im 9. Jahrhundert – oder eben in gar keinem konkreten Jahrhundert, sondern im Opernraum.
Vielfach wird Tancredi als »erste opera seria« von Rossini bezeichnet. Das ist richtig, wenn man den Begriff »opera seria« nicht musikhistorisch, sondern gattungsspezifisch nimmt. Die »opera seria« im engeren Sinn ist eine Kunstform des 18. Jahrhunderts. Sie wurde wesentlich von Pietro Metastasio geprägt, dessen Opernreform die strenge Trennung von komischer und ernster Oper zur Folge hatte. Eine »opera seria« (in der Regel »dramma per musica« genannt, um den hohen dramaturgischen Anspruch zu unterstreichen) ist immer dreiaktig, sie hat zwei paarweise und über Kreuz agierende Hauptpersonen sowie zwei oder höchstens drei Nebenpersonen, die Hauptpersonen werden in tragische Verstrickungen zwischen Pflicht und Neigung geführt, aus denen sie in der Regel am Ende glücklich herauskommen. Zwar ist die Handlung (theater-)logisch aufgebaut, aber das, was wir Handlung nennen, ist ausschließlich im Rezitativ abgehandelt, während die Arien die musikalische Hauptsache darstellen. In ihnen drücken die Sänger ihre Gefühlslage aus, aus dem Wechsel der Affekte entsteht die Spannung, die sich auf den Zuschauer überträgt, der neugierig gemacht (Affekt: Bewunderung) und überrascht (Affekt: Schrecken) wird. Die Arien sind fast ausschließlich entweder Auftritts- oder Abgangsarien. Am Ende der ersten beiden Akte steht allenfalls ein Duett, am Ende des dritten ein "coro" genanntes Ensemblestück. Das bedeutet, dass die Formkurve zumindest der ersten beiden Akte ganz anders verläuft, als wir es normalerweise von einer Oper gewohnt sind. Die größte Dichte an Personen auf der Bühne ist in der Mitte des Aktes erreicht und nicht am Ende.
Die Dichtung des Librettos folgt barocker Lyrik mit ihren Kontrastwirkungen. Hier fokussiert auf die fünfteilige (bzw. neunteilige) Dacapo-Arie: Dabei wird die erste Versgruppe zweimal nacheinander verschieden ausmusiziert, darauf folgt als Mittelteil die einmalige Vertonung der zweiten Versgruppe. Den Schluss der Arie bildet eine vom Sänger nach Belieben mit zusätzlichen Koloraturen verzierte Wiederholung der ersten beiden Text-»Durchgänge« als »da capo (al segno)« – vom Anfang bis zum »Ende«-Zeichen zu spielen und zu singen. Zählt man die rein instrumentalen »Ritornelle« ganz am Anfang, zwischen den beiden Textdurchgängen und am Ende des Hauptteils als eigene formale Einheiten, dann ist der Hauptteil der Dacapo-Arie allein schon fünfteilig, die ganze Arie mithin neuteilig. Misst man die Zeit, dann ist der Hauptteil immer mindestens doppelt so lang wie der Mittelteil.
Von diesen Charakteristika der »opera seria« ist Tancredi schon meilenweit entfernt. Den Wechsel zur Zweiaktigkeit haben Mozart (in La clemenza di Tito, eine radikale Umarbeitung eines Textes von Pietro Metastasio) und andere vollzogen, während die Dacapo-Arie sich schon in den späten Werken von Händel rar machte. Was aber als Tradition der »opera seria« zumindest in der Erstfassung noch eingehalten wird, ist das »lieto fine«, das glückliche Ende. Hier allerdings hat der Librettist Rossinis der Vorlage von Voltaire Gewalt angetan. Bei Voltaire nämlich endet Tancrède sterbend in den Armen seiner Geliebten, nachdem er Solamir im Kampf besiegt hat. In der zweiten Fassung hat Rossini diesen konventionellen Ausrutscher korrigiert und folgt der Tragödie Voltaires. Das ist die Fassung, die jetzt auch an der Deutschen Oper Berlin gespielt wird.

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