Dienstag, 22. November 2011

Candide

Was die Opéras bouffes in der Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts in Paris waren, waren hundert Jahre später am Broadway in New York die Musicals. Der Stoff war in der Regel heiter (wenn der Begriff »musical comedy« dahinter stand), von Fall zu Fall (»musical play«) auch ernst, genau so wie die Operas comiques es auch sein konnten, man denke nur an Carmen. Genauso wie nur ganz wenige von Offenbachs Werken »Operetten« geheißen werden, haben viele Musicals eine andere Gattungsbezeichnung. So auch dieses, was wir nun betrachten wollen, weil es die Erstfassung von Bernsteins Candide darstellt. Das Libretto (d. h. die dramaturgische Grundstruktur und die gesprochenen Texte) dieses Werks stammt von Lillian Hellman, einer Autorin, die nach ihrem große Erfolg mit dem Theaterstück Little Foxes Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg begleitet hatte und in den 50-er Jahren ins Visier der McCarthy-Behörde geriet. Sie hatte so wenig Broadway-Erfahrung wie die Autoren der Gesangstexte Richard Wilbur, John Latouche und Dorothy Parker. Lediglich der Komponist Leonard Bernstein und der Orchetrator Hershy Kay hatten 12 Jahre vorher schon einmal an einem Musical zusammen gearbeitet, On the Town. Wie gesagt, es handelte sich um ein Musical, aber es hieß nicht Musical, sondern »A Comic Operetta«.
Es wurde ein Misserfolg, d. h. es spielte sein Geld nicht ein und musste nach 73 Aufführungen abgesetzt werden. Zwei Nummern allerdings schlugen schon bei der Premiere ein und sie werden seither immer wieder gern im Konzert vorgetragen: die Overture und »Glitter and be gay«, die Bravourarie der Cunégonde. Diese beiden Nummern hätten eigentlich schon 1956 hinreichend darlegen können, dass das Werk nicht auf eine Broadway-Bühne, sondern in ein Opernhaus gehört. Doch bis dahin hatte es noch Weile: die erste Wiederbelebung zeigte das Werk 1974 unter der eindeutigen Bezeichnung Musical, dafür schrieb Hugh Wheeler ein vollkommen neues Libretto. Die neuen Gesangstexte stammten von Stephen Sondheim, der schon an Bersteins drittem und erfolgreichstem Musical West Side Story mitgearbeitet hatte und in der Zwischenzeit nicht nur als Texter, sondern auch als Komponist von Company, Follies und Little Night Music eine große Karriere am Broadway gemacht hatte.
Dass man aus »Glitter and be gay« wirklich auch mit einer Musical-Stimme eine Paradenummer machen kann, zeigt Kristin Chenoweth hier eindrücklich. Der eigentliche Witz aber liegt schon in der Veralberung von Koloraturarien der Marke »Glöckchenarie« aus Lakmé. Deswegen hier »Glitter and be gay« und hier Lakmé mit Diana Damrau.
Doch noch einmal 15 Jahre dauerte es, bis Bernstein die Fassung letzhter Hand herausgab, die »Scottish Opera Version«. Jetzt endlich kam das Werk da an, wo es eigentlich hingehört: zwischen Le nozze di Figaro und Die Fledermaus, Orphée aux enfers und Falstaff, Lakmé und Der Rosenkavalier.
Woher aber kommt der Stoff? Voltaire gab 1759 anonym die Satire Candide ou l'Optimisme heraus, eine Abrechnung mit der optimistischen Weltanaschauung des Leibniz und seiner Anhänger. Das Erdbeben von Lissabon vier Jahre davor und der noch laufende Siebenjährige Krieg (der erste Krieg, der in der Alten und in der Neuen Welt gleichzeitig tobte) finden darin ihren Niederschlag und vor allem die Rat- und Sprachliosigkeit der Dichter und Denker angesichts solcher Katastrophen. Hier das Digitalisat einer frühen Ausgabe mit hübschen Illustrationen. Eine schöne altertümliche Übersetung (von 1844) findet man hier.

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