»Ailleurs« – das ist die Sehnsucht nach dem anderswo, das (unbestimmte) Fernweh. Es ist ein Gefühl, das vor allem in der Romantik (und ihren Nachwirkungen bis heute) eine große Rolle spielt. Ohne dieses Streben hätte es die Entdeckungen nicht gegeben, die 1492 mit der Ankunft des Kolumbus in Amerika einen vorläufigen Höhepunkt feierten, der dann allgemein als der Beginn eines neuen Zeitalters angesehen wird. Auf Entdeckung folgte Eroberung und die Kolonisierung begann. Zu einem weiteren »Clash of Civilisations« kam es knapp 200 Jahre später in den Türkenkriegen. In der Literatur fanden diese freundlich-feindlichen Annäherungen einen Niederschlag etwa in Komödien von Molière, wo Türken auftraten, oder in der ersten Übersetzung von 1001 Nacht. Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts kam eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit fremden Kulturen in Gang und es entstand das Bild des »edlen Wilden« bei Rousseau und seinen Anhängern. Dazwischen liegt die erste Oper mit fernen Schauplätzen, 1735 von Jean-Philippe Rameau komponiert und bis 1761 sehr häufig gespielt und mehrfach umgearbeitet: Les Indes galantes. Keiner der vier Akte spielt übrigens in Indien, was man wegen des Titels annehmen könnte. Die Inder sind hier als Synonym für das Fremdländische zu verstehen. Die Schauplätze sind 1. Die Türkei, 2. Mittelamerika, 3. Persien, 4. Nordamerika. Es werden darin vier unabhängige Geschichte erzählt, die sich aber in gewisser Weise ähneln (und auch nicht ganz so fern sind von dem Werk, das wir im Auge haben, weil es in der Deutschen Oper konzerant aufgeführt wird, Les pêcheurs de perles von Georges Bizet), drei Mal sind es zwei Männer, die sich um eine Frau streiten, einmal sind es zwei Männer und deren Sklavinnen, in die sie sich wechselseitig verlieben. Zwei Mal steht ein Europäer einem Einheimischen gegenüber, einmal sind es zwei Eroberer, die um eine Übersee-Prinzessin kämpfen. Höhepunkt des 2. Aktes, Les Incas du Pérou, ist der Ausbruch eines Vulkans, hier in einer Inszenierung von Andrei Serban und Blanca Li zu sehen (der Vulkanausbruch beginnt bei 03:30).
Den Begriff des »exotisme« verwendet der Schriftsteller und Kritiker Théophile Gautier als erster in einem Brief an die Brüder Goncourt, zwei Monate nach der Uraufführung von Bizets pêcheurs. In dem Brief geht es allerdings nicht um eine literarische Frage, sondern darum, was den Menschen vom Tier unterscheide. Und da nennt Gautier als Unterscheidungsmerkmal den »exotisme« und nennt hier schon zwei Ausprägungen des Fernwehs, die räumliche und die zeitliche. Das entspricht dem Konzept der »couleur locale«, die in der romantischen Kunst die Tendenz zum Realismus vertritt. Während in der Oper des 18. Jahrhunderts – wie an dem obigen Beispiel sehr anschaulich festzustellen ist – noch das Bühnenbild (in begrenztem Umfang vom Kostüm unterstützt) vorrangig dafür zuständig war, Ort und Zeit der Handlung zu repräsentieren, wird im 19. Jahrhundert auch das Orchester und schließlich die Singstimme in die Definition des "Wann und Wo" einbezogen. Das fängt 1794 mit dem »ranz de vaches« (Kuhreigen) in Eliza, ou Le voyage aux glaciers du Mont St Bernard von Luigi Cherubini an (die Alpen sind für die Pariser ja auch irgendwie exotisch) und bringt eine Bewegung in Gang, die ihre Höhepunkte bei Puccini findet, etwa in Madama Butterfly und Turandot, aber auch in La fanciulla del West. Bemerkenswert ist dabei, dass nicht nur für geographische Orte sondern auch für zeitliche Einordnungen solche musikalischen Elemente gefunden werden. So etwa der Luther-Choral in Meyerbeers Hugenotten oder die Stierhörner in der Walküre.
Als erstes bemerkenswertes Datum für den musikalischen Exotismus darf jedoch der 8. Dezember 1844 gelten: da wurde die sinfonische Ode Le désert (Die Wüste) von Félicien David in Paris uraufgeführt. Der Komponist hatte als Saint-Simonist 1832 Frankreich verlassen müssen und eine ausgedehnte Orientreise unternommen. Seine Eindrücke verarbeitete er in dieser sinfonischen Ode, die als Ursprung des Exotismus in der Musik angesehen wird. Hier der Anfang des mehrsätzigen Werks, der allerdings noch kaum die Musiksprache von Beethovens Ruinen von Athen übersteigt (hier zum Vergleich der »Türkische Marsch« daraus). Das Werk von David wird immer zitiert, wenn es um Exotismus in der Musik geht, selten aber wirklich aufgeführt, im Gegensatz zu Eine Steppenskizze aus Mittelasien von Alexander Borodin 36 Jahre später komponiert und Vorbild nicht zuletzt auch für Le sacre du printemps von Strawinsky.
In die Sphäre von David gehört auch Le caïd von Ambroise Thomas, am 3. Januar 1849 in der Opéra-Comique uraufgeführt. Wobei aber zu betonen ist, dass die »Türkenopern« von Gluck über Mozart und Cherubini bis dahin eine eigenständige Tradition haben, in die auch etwa Rossinis Maometto II gehört. Eine weitere exotische Geschichte, aber immer noch im (biblischen) vorderen Orient bleibend, ist La reine de Saba von Charles Gounod, 1861.
Aber auch auf dem Gebiet der Operette gibt es den Exotismus: Einen der ersten großen Erfolge erlangte Jacques Offenbach 1855 in seinen Bouffes-Parisiens mit Ba-Ta-Clan, einer »chinoiserie musicale«. Darin macht er sich (unter anderem) über die Verwendung der »couleur locale« in der Opéra lustig, indem er ein Fantasiechinesisch erfindet: die Handlung spielt in einem fernöstlichen Mini-Kaiserreich, das von einem Franzosen regiert wird, der selbst kein chinesisch spricht, dafür aber eben jenes Fantasiechinesisch, das auch sein Mandarin lernen muss. Unabhängig von einander kommen eine Französin und ein Franzose in sein Reich, verlieben sich ineinander – immer Fantasiechinesisch sprechend – entdecken schließlich, dass sie beide Franzosen sind, sprechen Französisch, was der Kaiser hört als er sie eigentlich zum Tod verurteilen will. Da packt ihn das Heimweh und alle drei machen sich auf den Weg nach Paris während der Mandarin den Thron besteigt. Die Ensembles erreichen in ihrem musikalischen Witz durchaus Rossinisches Format. Vorausgegangen war im gleichen Jahr Oyayaye ou La reine des îles, eine »anthropophagie musicale«, also eine musikalische Menschenfresserei.
Und demnächst von der ersten Oper, die auf der früher so genannten Insel Ceylon (heute Sri Lanka) spielt, Les pêcheurs de perles.
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