"Die Frage geht verloren" heißt es in den Meistersingern, wo Pedanten wissen wollen, ob der Eindringling in das Butzenscheiben-Idyll "frei und ehrlich geboren" sei. Ähnlich am Wesenlichen vorbei geht die Frage, ob das Weiße Rössl eine Operette oder ein Musical sei. Und sie unterstellt insgeheim, dass es nicht nur einen Genre- sondern auch einen Qualitätsunterschied gäbe. Den gibt es selbstverständlich nicht, die Qualität der Musik ist unabhängig vom außermusikalischen Zusammenhang. Sicher aber ist, dass das Werk von Charell, Benatzky und ihren Mitstreitern ein Höhe- und vorläufiger Endpunkt einer hochentwickelten Kunst ist, die den Kommerz nicht verachtet, sondern ihn einbindet. "Singspiel" haben die Autoren ihre große alpenländische Revue genannt, ein Anachronismus, der schon von vorn herein klarmacht, dass hier mit Formen gespielt wird, um Tradition und Moderne einander anzunähern.
Die Moderne, das sind die Schlager, der Jazz, der Tango, die (jetzt elektrische) Schallplatte. Eine wunderbare Einstimmung in die Welt der Show von 1930 ist die Einspielung des Bandleaders Ilja Livschakoff eines Rössl-Medleys. Der Sänger ist vermutlich Siegfried Arno, der den in der Uraufführung den Sigismund gespielt hat. Ähnlich authentisch ist die Aufnahme des Auftrittsliedes von Sigismund, die Max Hansen, der originale Leopold gemacht hat. Von ihm gibt es auch Sigismunds, "Zuaschaun kann i net" und den Titelsong, "Im weißen Rössl am Wolfgangsee."
Das Klassische, das ist die Handlung, die einem beliebten Boulevard-Stück (von den heute vergessenen Autoren Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg) entnommen wurde, nach dem überdies 1926 ein höchst erfolgreicher (Stumm-)Film gedreht worden war.
Der Film ist unmittelbares Vorbild für die Revue von Charell, sogar einen der Hauptdarsteller hat er übernommen, den schon erwähnten Max Hansen.
Zur Machart des Musicals gehört es, dass mehrere Autoren auch für die Musik verantwortlich sind. In der klassischen Operette und Oper kennt man es nur, dass ein Libretto beispielsweise von zwei Autoren geschrieben wird, einer schreibt den Dialog, der andere die Gesangstexte. Für das Weiße Rössl haben nicht weniger als fünf Komponisten gearbeitet, zu den im letzten log erwähnten Melodienerfindern kommt noch Eduard Künneke, der sich um die Instrumentation und die Arrangements der Chor-Nummern kümmerte. Das widerspricht natürlich der aus dem 19. Jahrhundert übernommenen Werkidee, die den einsam schaffenden, von einer jenseitig, transzendent angesiedelten Kraft inspirierten Künstler voraussetzt.
Ausgehend von diesem Werkbegriff, der für Bühnenwerke ohnehin nicht unproblematisch ist - schließlich existiert das Werk nur in der Aufführung mit Publikum -, wurde das "leichte" Musiktheater lange als minderwertig eingeschätzt. Selbst Rettungsversuche für die Operette sind nicht frei von Vorurteilen, da wo sie als Kunstwerk vom erfolgsorientierten Musical abgegrenzt wird. Insofern ist es kein Wunder, dass das Weiße Rössl im Standardwerk über die Operette von Volker Klotz, Operette: Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, zwar beschrieben wird, aber als minderwertig eingestuft ist. Der Musik-Konzepte Band 133/134 hält kräftig dagegen - und schießt zum Teil über das Ziel hinaus.
Wir können gespannt sein, was Sebastian Baumgarten an der Komischen Oper Berlin nun daraus macht. Die Bersetzung der Josepha Vogelhuber mit Dagmar Manzel lässt ahnen, dass mehr von der Revue von 1930 (mit der Kabarettistin Camilla Spira in dieser Partie) als von den Traditionen der 50-er und 60-er Jahre mit Anneliese Rothenberger ausgegangen wird.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.