Montag, 22. Dezember 2025

Uraufgeführt im Dezember 1925

Die Staatsoper hat am 14. Dezember den Hundertsten gebührend gefeiert. Sie haben die hoch gelobte Inszenierung von Andrea Breth aus dem Jahr 2011 wiederaufgenommen. Einige andere Theater haben in dieser Spielzeit Neuproduktionen auf dem Programm. In Braunschweig hatte Wozzeck schon am 12. Oktober Premiere, es inszenierte Franziska Angerer und es dirigierte Srba Dinić. Eine ausführliche Kritik finden Sie in der Deutschen Bühne, hier. Aufführungen gibt es noch am 17. und 25. Januar. In Graz ist die Premiere auf den 13. Februar angesetzt, in Lübeck auf den 25. April (Regie: Brigitte Fassbaender, eine Opernregisseurin und nicht eine Schauspielregisseurin, wie sich das sonst so eingebürget hat für das Werk). Oldenburg aber, das Theater das sich 1926 als erstes »Provinztheater« an das Werk von Alban Berg gewagt hatte, hat sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Dort spielt man am 29. Mai ebenfalls Wozzeck, aber den anderen, der heute so gut wie vergessen ist. Der Komponist Manfred Gurlitt (1890–1972) war wie Alban Berg durch die Bühnen-Uraufführung des Fragments von Georg Büchner 1913 in Müchen auf den Stoff aufmerksam geworden. Die einzige verfügbare Ausgabe war die Grundlage, sie stammte von dem sephardischen Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904). Auf einen offensichtlichen Lesefehler geht der Titel Wozzeck (statt Woyzeck) zurück. Sowohl Alban Bergs Oper wie auch die vier Monate später in Bremen erschienene von Manfred Gurlitt (1890–1972) verwenden diese Schreibart.

Mit der Oper von Alban Berg haben wir uns hier 2011 anlässlich der Inszenierung von Andrea Breth ebenso befasst wie 2018, als an der Deutschen Oper eine Neuinszenierung bevorstand. Sehr informativ ist die Wikipedia-Seite. YouTube bietet eine riesige Auswahl an Aufführungen, Videos wie Audios. Dabei sind die frühere Inszenierung der Staatsoper von Patrice Chéreau und die Wiener Aufführung von 1988, die auch in der Deutschen Oper zu Gast war, eine Inszenierung von Adolf Dresen (dem Vater des berühmten Filmregisseurs Andreas Dresen), dirgiert Claudio Abbado. Die Titelpartie wird übrigens in beiden Videos von Franz Grundheber gesungen. Und es gibt die Produktion der Hamburgischen Staatsoper, die 1970 in Gyula Trebitschs Studio Hamburg aufgezeichnet wurde, dirigiert von Bruno Maderna, inszeniert vom Hausregisseur Joachim Hess.

Manfred Gurlitt schrieb insgesamt sieben Opern, die allesamt als vergessen gelten können. Wozzeck war seine zweite. Die dritte wurde wie diese von einem anderen Komponisten überstrahlt. Dabei hat er für Die Soldaten nach Lenz (1930 in Düsseldorf uraufgeführt) genauso wie später Bernd Alois Zimmermann Simultanszenen komponiert. Diese wurden allerdings erst nachkomponiert, als Carl Ebert mit seinem Bühnenbildner Wilhelm Reinking eine entsprechende Idee für die Aufführung an der Berliner Städtischen Oper hatten. Die vierte Oper, Nana nach Émile Zola, wurde 1933 vor der Uraufführung verboten, obwohl Gurlitt vorsorglich in die NSDAP eingetreten war. Seine Mitgliedschaft war allerdings von Anfang an strittig und wurde 1938 für nichtig erklärt, weil seine und seiner Mutter Erklärungen, dass er unehelich geboren sei (und also kein Sohn des Kunsthändlers Fritz Gurlitt) nicht anerkannt wurden. 1939 emigrierte er nach Japan und erst 1958 kam Nana in Dortmund zur Uraufführung. Von den weiteren Werken kam bisher nur noch Nordische Ballade, komponiert nach der Erzählung Herrn Arnes Schatz von Selma Lagerlöf (1934–44) 2003 in Trier zur Uraufführung. Von Seguidilla Bolero (Nächtlicher Spuk) (1934–36), Warum (Feliza) (1934–45) und Wir schreiten aus, orientiert an verschiedenen Grimmscher Märchen (1945–1958) sind mir keine Aufführungen bekannt.

Wozzeck von Manfred Gurlitt ist so weit von Alban Bergs Oper entfernt wie nur denkbar – und doch berühren sich beide Komponisten an einigen Punkten erstaunlich. Alban Berg gehört unzweifelhaft in die »Zweite Wiener Schule« um Arnold Schönberg, die wesentlich von Wagner und Strauss beeinflusst waren, während Gurlitt eher zu der Gruppe um Kurt Weill und Paul Hindemith gehört. Während es also bei Alban Berg eher überraschend ist, dass seinem Wozzeck Formen aus der ganzen Musikgeschichte, insbesondere aus Barock und Klassik zugrundeliegen (Suite, Sinfonie, Inventionen etc.), ist das bei Gurlitt naheliegend. Und so kann man auch in seinem Wozzeck, Szene für Szene ein musikalisches Schema ausmachen, das auf die Musikgeschichte verweist. Die drei Mal fünf Szenen plus ein Zwischenspiel von Alban Berg sind im Wikipedia-Artikel (Link s. o.) genau beschrieben, das muss ich hier nicht wiederholen, bei Gurlitt aber ist das nicht so gut dokumentiert (Alban Berg hatte selbst in Vorträgen und Zeitschriftenartikeln auf seinen Komositionsplan aufmerksam gemacht). Hier daher die Szenenfolge Gurlitts mit Hinweisen zu deren musikalischer Struktur. Wenn Sie das Nachvollziehen wollen, nehmen Sie am besten die diese Playlist von der CD-Aufnahme mit Gerd Albrecht.

1. Die erste Szene zeigt wie in Alban Bergs Oper Wozzeck beim Rasieren des Hauptmanns. Die Musik integriert eine Fuge und einen unsichtbaren Chor, der das Motto »Wir arme Leut'« mehrmals wiederholt.
2. Auf dem offenen Feld (ebenfalls wie bei Berg) treffen wir Wozzeck mit Andres: eine Chaconne (Berg nutzt diese musikalische Form in der Doktor-Szene).
3. Die dritte Szene ist wie bei Berg ein Militärmarsch kombiniert mit einem Wiegenlied, Marie mit ihrem Kind.
4. Die Straßenszene mit Marie und dem Tabmourmajor zieht Gurlitt vor, er folgt dabei dem Schema einer musikalischen Durchführung, die bei Berg erst im zweien Akt angewendet wird.
5. Als nächstes sehen wir, wie Marie ihren Schmuck genießt und dabei von Wozzeck überrascht wird,  die Musik bestimmt ein Ostinato, also eine ständige Wiederholung.
6. Auf der Straße filosofieren Hauptmann und Doktor, Wozzeck kommt dazu, noch einmal folgt die Musik einer kontrapunktischen Form, diesmal nicht eine ausgearbeitete Fuge, sondern ein Fugato.
7. Die Auseinandersetzung Wozzecks mit Marie, in der er seine Eifersucht offenbart, ist nun nicht eine Form der absoluten Musik, sondern ein Recitativo accompagnato, also eine ausgesprochene Opernform.
8. Auf der Wache träumen Andres und Wozzeck, später auch der Chor vom Tanzen im Wirtshaus, das ist eine Lied-Form.
9. Jetzt sind wir mit Wozzeck und Marie im Wirtshaus, wo der Ländler dominiert, auch das Lied vom Jäger aus der Kurpfalz.
10. Wieder auf dem offenen Feld ist Wozzeck jetzt allein und bereitet sich auf den Mord vor, Ostinato (»Immerzu«).
11. Zurück in der Kaserne kann Wozzeck nicht schlafen und fantasiert vor Andres weiter vom Messer, noch ein Ostinato.
12. Auf dem Exerzierplatz stolziert der Tambourmajor und gibt mit der Eroberung der Marie an, Andres und Wozzeck kommentieren, es dominieren Tanzformen.
13. Marie liest in der Bibel, um sich zu beruhigen und liest dann dem Kind ein Märchen vor, eine weitere Fuge, diesmal in langsamem Tempo.
14. Wozzeck kauft das Messer (eine Szene, die Bei Berg gar nicht vorkommt), ein Scherzo (Allegretto). Eine problematische Szene für die Regie, da der Verkäufer eine für die Zeit typische Juden-Karikatur ist.
15. Auf der Straße unterhalten sich Nachbarn mit Liedern und Schauergeschichten, die Musik ist wieder von Ostinati durchzogen.
16. Zurück im Schlafsaal macht Wozzeck erneut Andeutungen über das, was er vorhat, aber niemand versteht, Andres will ihn wegen der Fieberfantasien ins Lazarett schicken, die Musik folgt einem Dreierrhytmus.
17. Auf dem Waldweg am Teich unterhält sich Wozzeck ein letztes Mal mit Marie und steigert sich in seine fixe Idee, dass er Marie der Ehre wegen umbringen müsse, ein Rondo. Den Mord kommentiert der unsichtbare Chor: »Mörder!«
18. Wozzeck geht immer weiter ins Wasser beim Versuch, sich das Blut abzuwaschen und das Messer verschwinden zu lassen, Bürger vernehmen Laute des Sterbens und fliehen entsetzt, eine zweite Chaconne.
19. Epilog des Chores (»Wir arme Leut«), ein Lamento.

Drei Opern von Manfred Gurlitt wurden bisher auf CDs veröffentlicht: Wozzeck, Live-Mitschnitt des ORF von 1985 mit Heinz-Jürgen Demitz in der Titelpartie und Catherine Gayer als Marie unter der Leitung von Lothar Zagrosek; Wozzeck und Soldaten kamen in der verdienstvollen Reihe »Entartete Musik« 1998 von Gerd Albrecht dirigiert heraus, Wozzeck Link s. o., Soldaten sind hier zu hören; Nana wurde 2010 in Erfurt mitgeschnitten, hier die Playlist.

Im Dezember 1925 wurde auch der Film Pazerkreuzer Potemkin zur Uraufführung gebracht, der ebenso wie Alban Bergs Wozzeck im Nachhinein als epochal bewertet wurde. Die Originalmusik von Edmund Meisel (1894–1930) ist erhalten und konnte gestern im Babylon Kino in einer Jubiläumsaufführung, vom Live-Orchester ausgeführt, gehört werden. Am 23. Dezember wird er noch einmal mit Klavierbegleitung aufgeführt. Der Film ist in einer restaurierten Fassung auch bei YouTube vorhanden, hier.

Und nun: Frohe Festtage und bis zum Neuen Jahr,
Ihr Curt A. Roesler 

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