Am Montag hat in Berlin wieder die Schule begonnen und die Sommerferien sind auch an den Opernhäusern vorbei. Es wird wieder geprobt und bald folgen die ersten Aufführungen. Die erste Premiere bringt die Komische Oper heraus, für die der Temepelhofer Flughafen als Saison-Opener schon eine Tradition hat. Nach dem Messias von Händel im letzten Jahr folgt jetzt Jesus Christ Superstar. Dieses Musical von Andrew Lloyd Webber war vor über 40 Jahren sein erster großer Erfolg. Zusammen mit seinem Texter Tim Rice hat er sich diesen Erfolg sorgfältig erarbeitet. Das Feld musste vorbereitet werden. Zwar war es um 1970 nicht vollkommen abseitig, aus einem Bibelstoff Massenunterhaltung zu ziehen. 1966 war in den USA schon der hauptsächlich in Italien gedrehte Film La Bibbia unter dem Titel The Bible. In the Beginning... herausgekommen. John Huston spielte dari den Noah (hier das Boarding of the animals), lieh Gott seine Stimme und führte Regie in dem in einer seltenen Breitwand-Technik gedrehten ersten Teil der geplanten Serie. Die Musik stammte übrigens von Toshiro Mayuzumi, über den wir vor einem Jahr als Vorläufer der »Spektralisten« anlässlich von Innocence sprachen. Die LP mit dem Soundtrack kann man hier hören. Keine Angst, das ist keine »moderne Musik« sondern gewohnte Filmmusik aus dieser Zeit, allerdings sehr gute Filmmusik.
Andrew Lloyd Webber und Tim Rice hatten 1968 eine 15-minütige »Pop-Cantata« Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat für Schulaufführungen komponiert. Später – allerdings erst nach Jesus Christ Superstar – wurde auch daraus ein Musical (hier eine Filmversion von 1999), das im Wesentlichen einer klassischen, aber sehr selten aufgeführten Oper folgt: Joseph, 1807 Opéra-Comique, Paris, Musik von Etienne-Nicolas Méhul. Das Besondere an dieser Show ist nicht nur, dass sie durchgehend einen Kinderchor beschäftigt, sondern auch, dass sie Pop-Größen parodiert. Am auffälligsten ist das bei »The King's Song« (also das Lied des Pharao), das klingt wie von »King« Elvis gesungen.
Joseph... in der Kantatenform war so etwas wie eine Fingerübung für das große Projekt, eine kritische Auseinandersetzung mit der Jesus-Geschichte. Die »Leben-Jesu-Forschung« (den Ausdruck prägte Albert Schweitzer) beginnt im Zeitalter der Aufklärung, im 18. Jahrhundert. Sie vergleicht die Beschreibungen in den vier Evangelien, spürt darin Widersprüche auf und gleicht sie mit anderen geschichtlichen Quellen ab. Das war am Anfang natürlich sehr umstritten, die Kirchen verwahrten sich dagegen, denn sie standen auf dem Standpunkt, dass alles wahr ist, was in der Bibel steht, da braucht es gar keine Forschung, die irgend etwas in Zweifel zieht. Aber schon im 19. Jahrhundert war diese Froschung etabliert und 1835 veröffentlichte David Friedrich Strauß Das Leben Jesu und 1863 Ernest Renan Vie de Jésus. Diese beiden viel gelesenen Bücher regten auch Komponisten an. 1862–1866 schrieb Franz Liszt sein Oratorium Christus, das 1873 in Weimar zur Uraufführung kam; 1887–1893 der russisch-jüdische Komponist Anton Rubinstein seine Oper Christus, die 1894 in Stuttgart uraufgeführt wurde. Während diese beiden Werke auf ganz unterschiedliche Weise die biblische Geschichte subjektivieren – Liszt verwendet ausschließlich Bibeltexte, Rubinstein stellt Jesus als historische Person ins Zentrum – hatten Rice und Lloyd-Webber eine neue Betrachtung der Figur im Sinn. Sie wollten die Geschichte von Jesus anders erzählen, nämlich durch die Augen der Mithandelnden, insbesondere Judas, der dann auch zu einer zentralen Figur in Jesus Christ Superstar wurde. Auch wenn die Musical-Zentren London und New York um 1970 eine sehr liberale Gesellschaft beherrschte, war es nicht leicht, einen Musical-Produzenten für diese Vorhaben zu finden. Also setzten sie darauf, durch die Musik zu überzeugen. Leichter war nämlich ein Schallplattenproduzent zu finden, der ihr Popalbum Jesus Christ Superstar 1970 veröffentlichte. Die musikalische Struktur dieses Popalbums ist bereits diejenige des Musicals, es fehlt lediglich eine Nummer, die später eingefügt wurde, »Could We Sart Again Please« zwischen »King Herod's Song«und »Judas' Death«. Es lohnt sich – wenn man überhaupt mit dieser Art von Musik irgendwo zwischen den Beatles und den Rolling Stones etwas anfangen kann –, zuerst dieses Album anzuhören (hier). Im Studio konnten die Ideen offenbar viel besser umgesetzt werden, als auf der Bühne, auch fehlen noch einige Exotismen, die etwa mit Streichertremoli den Spielort Naher Osten wie in Salome definieren sollen und die insbesondere in der Filmfassung breiteren Raum einnehmen.
Im DHM (Deutsches Historisches Musem, Berlin) lauft seit einiger Zeit eine Sonderausstellung »Roads not Taken«. Sie befasst sich mit der Frage, was wäre, wenn Wendepunkte in der Deutschen Geschichte von 1848 bis 1989 anders abgelaufen wären, also keine friedliche Revolution in der DDR 1989, gegelücktes Hitler-Attentat 1944 usw. Eine ähnliche Frage stellt sich in Jesus Christ Superstar: was wäre, wenn Judas Jesus nich verraten hätte? Er tut sich schwer mit der Entscheidung, kommt aber zum Schluss, dass er es tun muss, um den immer radikaler Werdenden zu stoppen.
Jesus Christ Superstar ist ein »sung-through musical«, d. h. es gibt keinen gesprochenen Dialog zwischen den musikalischen Nummern. Tim Rice und Andrew Lloyd-Webber haben sie nicht erfunden, aber sie haben die Form wesentlich geprägt. Evita und Cats sind ebenfalls ohne Dialoge. Die zwei Teile des Musicals umfassen jeweils 12 musikalische Nummern, macht zusammen 24. Man darf dabei gerne an die 24-Stunden-Regel denken, nach der die Handlung eines klassischen Schauspiels sich innerhalb eines Tages abspielen soll. 12 ist außerdem die Anzahl der Jünger bzw. Apostel.
In der Zeit, in der Rice und Lloyd-Webber in London an Jesus Christ Superstar arbeiteten, hatte sich in New York schon das »Off-Broadway Musical« herausgebildet. Die Off-Broadway-Theater, nicht direkt am Broadway gelegen, aber in dessen Nähe, sind kleiner als die Broadway-Theater und umfassen meist nicht mehr als 500 Zuschauerplätze. In den 50er Jahren wurden dort weniger populäre Schauspiele gespielt, wie Ibsen oder Tschechow und amerikanische Gegenwartsdramatik von Edward Albee u. a. In den 60er Jahren gab es dort auch mehr und mehr musikalische Produktionen, schließlich etablierte sich der Off-Broadway als Ort für das Experiment. Ein solches Experiment war Hair, ein Musical, das fast nur aus Musik besteht, und insofern für das »sung-through musical als Modell diente. Das Experiment Hair gelang und schon 1968 wurde es am Broadway gespielt. Und bereitete den Weg für Rice und Lloyd-Webber.
1970 erschien am Off-Off-Broadway (so werden noch kleinere Theater, die noch weiter vom Broadway entfernt sind, bezeichnet) Godspell heraus. Hervorgegangen war dieses Musical aus einer Studienarbeit des Studenten der Theaterwissenschaft John Michael Tebelak, der sich nach einer Polizeikontrolle nur wegen seiner langen Haare mit der Hippie-Bewegung des »Jesus People« solidarisiert hatte. Die Musik dazu schrieb er teils selbst im Stile des Hard-Rock, teils wurde sie von den aufführenden Schauspielern beigetragen. Damit es zu einer Aufführungam Off-Broadway kommen konnte, musste die Musik vollkommen neu komponiert werden, dafür wurde Stephen Schwartz ins Boot geholt. Die Uraufführung dieser neuen Fassung war am 17. Mai 1971 und sie war ein solch großer Erfolg, dass die Inszenierung noch im gleichen Jahr an den Broadway kam. Inzwischen hatten Rice und Lloyd-Webber den Produzenten Robert Stigwood, der 1968 Hair ins Londoner Wets-End gebracht hatte, überzeugen können, ein Theater am Broadway für die Uraufführung von Jesus Christ Superstar zu suchen. Im Mark Hellinger Theatre kam das Musical am 12. Oktober 1971 heraus. Natürlich gab es Proteste und Verbote von religiöser Seite. Auch Antisemitismus wurde dem Musical vorgeworfen, aber es hat sich zu einem der erfolgreichsten Musical aller Zeiten entwickelt.
Verständlich also, dass die Komische Oper sich dieses Werks annimmt und nicht Godspell oder Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcast, die vielleicht interessantere Werke der Seventies wären, aber eben weit weniger bekannt.
Am 17. September ist das ein Thema in den Zehlendorfer Operngesprächen, ich freue mich darauf,
Ihr Curt A. Roesler
 
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