Hätte Gioachino Rossini einen so ehrgeizigen Vater gehabt wie Mozart, wer weiß, wielleicht wäre auch er als Wunderkind durch die Fürstentümer Europas gereist. Seine Eltern aber waren beide berufstätig und ermöglichten ihm vor allem eine gute Ausbildung. Der Vater war Hornist (der im Orchester auch dien Trompete zu spielen hatte, daher ist gelegentlich auch zu lesen, er sei Trompeter gewesen), die Mutter Sängerin. Seinen ersten Auftritt hatte er mit sechs Jahren als Triangelspieler im Orchester. Im Jahr darauf, 1799, geriet sein Vater als »Revolutionär« in Haft, kam aber glücklicherweise bald wieder frei. Mit neun Jahren spielte Rossini im Orchester Bratsche. Und noch einmal hatte Rossini großes Glück: in Fano und Bologna war er in Kinderchören mit einer außergewöhnlichen Sopranstimme aufgefallen und nur der energische Widerstand seiner Mutter ersparte ihm mit 12 Jahren das Schicksal eines Kastraten. 1804, da kam die Familie in Bologna an, wo es europaweit berühmte Musikschulen gab. Klavier- und Kompositionsunterricht hatte er schon in den Jahren zuvor in Fano gehabt – und dabei offensichtlich bei den Kirchenmusikern sehr viel über Kontrapunkt gelernt. 1804 komponierte er die Sei sonate a quattro, die schon ganz unverkennbar nach Rossini klingen. Obwohl es sich um allerfeinste Kammermusik handelt, werden sie oft auch von (Streich-)Orchestern gespielt (auch von Karajan gibt es eine Aufnahme). Es handelt sich nicht um Streichquartette im von Haydn und Beethoven etablierten Sinn, also für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello. Die Bratsche ist ausgelassen, dafür kommt ein Kontrabass dazu. Formales Vorbild sind Vielmehr die Triosonaten und Konzerte des italienischen Barock. Mit Haydn und Beethoven verbindet sich Rossini aber durch die »demokratische« Behandlung der Instrumente. Jedes Intrument ist gleichberechtigt, jedes hat seine Soli, aber die Melodien verflechten sich zu einem polyphonen Miteinander. Versuchen Sie den Melodien zu folgen und jeweils auch mitzubekommen, was die anderen Instrumente machen, wenn eines sich in den Vordergrund drängt, z. B. hier in der dritten Sonata, gespielt von Baiba Skride und Andrés Gabetta, Violine; Monika Leskovar, Cello; Roberto di Ronza, Kontrabass beim Solsberg Festival 2017. Solsberg liegt übrigens auf der Schweizer Seite des Rheins bei Rheinfelden. In der sechsten Sonate kommt etwas vor, womit Rossini später sehr berühmt geworden ist, ein Gewitter. Das können Sie sich ja mit Karajan anhören, ist leicht zu finden. Nach zunächst privatem Studium bei Padre Antonio Tesei kam der 14-jährige Rossini an das Liceo musicale zu Stanislao Mattei, dessen Fugen noch heute zu Unterrichtszwecken gebraucht werden. Rossinis Mitschüler war der acht Jahre ältere Francesco Morlacchi, der zu Carl Maria von Webers Zeiten an der Dresdner Hofoper für die italienische Oper zuständig war.
Für die Kantate Il pianto d'Armonia sulla morte di Orfeo erhält Rossini 1808 einen Preis des Liceo musicale (die Musik ist weit weniger unverwechselbar als die Streichersonaten, wie hier zu hören ist), im Jahr darauf übernimmt er die Leitung der »serali trattenimenti« (eine etwas umständliche Bezeichnung von Vortragsabenden) der Accademia oder Società de' Concordi, einer dem freimaurerischen Leben in Bologna verbundenen Vereinigung von neugiereigen professionellen und Laienmusikern. Als Erstes bringt er dort Die Schöpfung von Joseph Haydn zur Aufführung, zwei Jahre später kommen Die Jahreszeiten. Davor aber erhält er mit 18 Jahren seinen ersten Opernauftrag aus Venedig. Die »farsa comica« La cambiale di matrimonio wird am Teatro San Moise zur Uraufführung gebracht. Der Einakter wurde durch eine Oper von Giuseppe Farinelli ergänzt, einem bereits etablierten Opernkomponisten, den heute kaum noch jemand kennt. In La cambiale di matrimonio ist bereits alles ausgebildet, was Rossini ausmacht, zumindest in seinen komischen Opern. Das Werk wird bis heute gerne aufgeführt, meist ohne Ergänzung. Bei YouTube finden Sie leicht drei Inszenierungen (zwei davon aus Pesaro). Gelegentlich wird La cambiale di matrimonio ergänzt durch einen der bald darauf ebenfalls für das Teatro San Moisè geschriebenen Einakter von Rossini, L'inganno felice, La scala di seta, L'occasione fa il ladro (alle 1812) oder Il Signor Bruschino (1813). La cambiale di matrimonio war aber nicht die erste Oper, die Rossini geschrieben hat, das war kurz davor Demetrio e Polibio, ein dramma serio, zuerst nur für die Schublade geschrieben. 1812 kam sie aber schon in Rom heraus. Ein weiteres »dramma serio«, Ciro in Babilonia, kam 1812 in Ferrara heraus. 1813 erfolgten (außer Il signor Bruschino) die beiden Uraufführungen, die Rossinis Ruhm in die Welt trugen, Tancredi und L'italiana in Algeri. Allen diesen Opern steht eine sehr differenziert ausgearbeitete Overtüre vor, die nicht unbedingt mit der Handlung der Oper in Zusammenhang stehen muss. Vielmehr zeigt der Komponist seine Meisterschaft in der Orchesterbehandlung. Sie enthalten teils virtuose Soli und fast alle mindestens ein groß angelegtes Crescendo. Aber nicht immer hatte Rossini Zeit, auch eine neue Ouvertüre zu schreiben. Für Ciro in Babilonia verwendete er einfach die von L'inganno felice noch einmal, obwohl es sich nicht um eine »farsa«, also eine Komödie handelte, sondern um ein »dramma con cori«. Aber es war ja in einer anderen Stadt, in Ferrara. Das Verfahren sollte er noch auf die Spitze treiben. Ausgerechnet für Il barbiere di Siviglia (1816), seine heute beliebteste Oper, hatte er so wenig Zeit, dass er nicht nur die Ouvertüre »recyclen« musste, sondern auch große Teile innerhalb der Oper. Als Ouvertüre kam die von Elisabetta, regina d'Inghilterra (1815) zum Einsatz. Aber auch das ist nicht der ursprüngliche Platz der Ouvertüre, sie wurde für Aureliano in Palmira (1813) komponiert.
39 Opern hat Rossini bekantlich insgesamt komponiert. Wir springen jetzt vier Jahre und acht Opern vor in die Zeit, wo Rossini mit La cenerentola Abschied nimmt von der italienischen Opera buffa. Rossinis Humor war immer schon tiefgründig; seine Musik ist spritzig und nachdenklich zugleich. Auch 1817 brachte er insgesamt vier Opern heraus, in Rom La cenerentola und zum Ende des Jahres Adelaide di Borgogna und in Neapel Armida; das zentrale Werk aber komponierte er für die Scala in Mailand, La gazza ladra. Drei Jahre nach Il turco in Italia wurde er noch einmal um eine Oper gebeten, für die schon die Hauptbesetzung feststand. Das Libretto von Felice Romani, das ihm vorgelegt wurde, lehnte er ab. Stattdessen entschied er sich für einen nicht prämierten Wettbewerbsbeitrag aus dem Vorjahr, La gazza ladra von Giovanni Gherardini, der sonst nicht als Librettist hervorgetreten ist. Als Vorlage hatte ihm das 1815 an der Porte Saint-Martin in Paris uraufgeführte »mélodrame historique« La pie voleuse ou La servante de Palaiseau von Théodore Baudouin d'Aubigny und Louis-Charles Caigniez gedient. Bei der Aufführung dieses Theaterstücks in London wurde in der Ankündigung explizit eine Verbindung zum Fall der Elizabeth Fenning gezogen, die am 26. Juli 1815 wegen Diebstahls gehängt worden war, obwohl sie immer ihre Unschuld beteuert hatte. Ihr Beispiel sollte andere Hausangestellte abschrecken. 1829 erst gestand ein gewisser Robert Gregson Turner, den Diebstahl begangen zu haben – und wurde sogleich ebenfalls gehängt. Der Fall Fenning wurde breit diskutiert und wenn es auch noch lange dauerte, bis die Todesstrafe in den meisten europäischen Ländern abgeschafft wurde, so hat er doch zu der Entwicklung dahin beigetragen, wie auch zur Einführung von Beweisen von Gericht. Charles Dickens, der wie vermutlich die 10.000 Londoner, die an ihrem Begräbnis teilnahmen an ihre Unschuld glaubte, war einer der Wortführer dieser Bewegung. Die Musik zu dem »mélodrame historique« stammte vom Musikalischen Leiter des Théâtre de la Porte Saint-Martin, Alexandre Piccin(n)i, dem illegitimen Enkel von Niccolò Piccin(n)i, den man als Konkurrenten Glucks in den 1780er Jahren kennt. La gazza ladra ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass gute Oper immer Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist.
Jetzt zur Handlung. 1. Akt, 1. Bild. Ein Dorf in der Nähe von Paris. Im Hof Vingradito Als erstes führt sich die Elster ein, die immer wieder den Namen Pippo ruft. Das ist ein junger Bauer (Alt/Mezzosopran) in Diensten der Famiie Vingradito. Die Rückkehr Giannettos (Tenor) aus dem Krieg wird von seinen Eltern Fabrizio (Bass) und Lucia (Mezzosopran) Vingradito und von deren Hausangestellten Ninetta (Sopran/Mezzosopran) sehnsüchtig erwartet. Der fahrende Verkäufer Isacco (Tenor) bietet allerhand Waren an; endlich können sich die Liebenden in die Arme schließen. Ein zerlumpter Kriegsheimkehrer entpuppt sich als Fernando (Bass), der Vater Ninettas, der als Deserteur gesucht wird. Der Podestà Gottardo (Bass) lässt sich von Ninetta den Steckbrief vorlesen, die ihn geistesgegenwärtig entsprechend abändert. Das rettet sie aber nicht vor den Zudringlichkeiten des Podestà, dem Fernando die Meinung geigt, während die Elster einen silbernen Löffel stiehlt. * 2. Bild. Zimmer im Haus Vingradito Ninetta hat gerade anderes Silberbesteck im Auftrag ihres Vaters an Isacco verkauft, als Lucia den Verlust der Gabel bemerkt. Beim Verhör durch Gottardo fällt Ninetta Geld aus der Tasche. Als sich auch noch herausstellt, dass sie die Tochter eines Deserteurs ist, wird sie ins Gefängnis geworfen.
2. Akt. 1. Bild Vorhalle des Gefängnisses Ninetta bittet den Gefängniswärter Antonio (Bass), Pippo zu ihr zu rufen. Als Erster besucht sie aber Giannetto, mit dem sie Liebesgeständnisse austauscht. Da sie sich weiterhin weigert, dem Podestà zu Willen zu sein, ist ihre Verurteilung so gut wie sicher. Pippo leiht ihr noch Geld, das sie für ihren Vater, der es für die Flucht braucht, verstecken können. * 2. Bild Zimmer im Haus Vingradito Fernando erfährt von Lucia, die inzwischen Mitleid mit Ninetta empfindet, dass diese des Diebstahls beschuldigt wird. * 3. Bild Gerichtssaal in der Bürgermeisterei Das Todesurteil wird gesprochen. Der protestierende Fernando wird als Deserteur erkannt und ebenfalls verhaftet. * 4. Bild Dorfplatz mit Kirchturm Ein Trauerzug begleitet Ninetta zur Hinrichtung. Nun stiehlt die Elster ein Geldstück und man sieht, wo sie es versteckt. Dort findet man auch das Besteck. Ninetta ist also unschuldig und das Glockengeläut rettet sie. Eine Amnestie bewahrt auch Fernando vor dem Tod. Ninetta kann nun Giannetto heiraten.
Mit La gazza ladra eröffnete das allererste Rossini Festival in Pesaro 1980. Gianandrea Gavazeni dirigierte und die Inszenierung stammte von Sandro Sequi. Im Jahr darauf wurde die Produktion unter der Musikalischen Leitung von Alberto Zedda wiederaufgenommen. Von Zedda stammte auch die erste vollständige Schallplattenaufnahme der Oper, aufgenommen in Rom 1973. Danach erst hatte er seine kritische Werkausgabe vorgelegt und 1979 in London eine weitere Schallplatteneinspielung geleitet, die es ebenso wie die frühere nur antiquarisch auf Schallplatten gibt. Eine weitere Einspielung von 2009 vom SWR in Bad Wildbad aufgenommen, ist heute auf CDs und entsprechend bei den Stramingdiensten zu bekommen. Die allererste Gesamtaufnahme entstand 1959 in Wexford unter der musikalischen Leitung von John Pritchard. Auch diese ist nur auf LPs antiquarisch zu bekommen. Aber immerhin hat jemand ein paar Ausschnitte auf YouTube hochgeladen, darunter das Duett von Ninetta und Pippo aus dem zweiten Akt (wo sie sich überlegen, wie sie das Geld für Fernando verstecken können) mit Mariella Adani und Janet Baker, hier. (Weitere Ausschnitte so miserabel eingerichtet, dass ich hier keine Links poste.) In Pesaro wurde La gazza ladra 1989 und 2007 von Michael Hampe bzw. Damiano Michieletto neuinszeniert. Die Inszenierung von 2007 wurde 2015 wiederaugenommen. Die Produktion von 2007 unter der Musikalischen Leitung von Jia Lü wurde auch auf DVD gepresst und die können Sie hier sehen. Die wunderbare Inszenierung von Tobias Kratzer im MusikTheater Wien ist in der 3Sat Mediathek nur noch aus Österreich erreichbar. Empfehlenswert ist aber noch diese Inszenierung des Teatro alla Scala Milano von 2017. Nehmen Sie sich Zeit, die Oper dauert fast dreieinhalb Stunden. Ohne Pause.
Weiter reden wir über Rossini und La gazza ladra am Mittwoch. Ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.