Montag, 9. Dezember 2024

Die Frau ohne Schatten

In der neunten und letzten Sitzung schauen wir voraus in den Januar der Deutschen Oper Berlin – oder zurück, wer Die Frau ohne Schatten gerade in der Staatsoper gesehen hat. Schön, dass es zwei unterschiedliche Interpretationen dieser nicht allzu häufig gespielten Oper in einer Stadt zu sehen gibt. Aber angesichts solcher Doppelungen, braucht man sich nicht über Diskussionen über die öffentliche Finanzierung der Berliner Opernhäuser zu wundern. Was man bei der Zauberflöte noch halbwegs rechtfertigen kann mit Hinweisen auf unterschiedliche Publika an den Berliner Opernhäsuern, ist bei diesem Werk schon schwieriger, so sehr sich Strauss und Hofmannsthal auch bemüht haben, eine zweite Zauberflöte zu schreiben.

Kaum war die Arbeit am Rosenkavalier beendet, diskutierten Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal neue Projekte. Neben Ariadne auf Naxos, die als modernes Musikfinale zu der Komödie von Molière Der Bürger als Edelmann geplant wurde, ließ sich Hofmannsthal von einem wenig bekannten Werk von Johann Wolfgang Goethe anregen. Nach dem Frieden von Basel vom 5. April 1795, in dem Preußen auf seine linksrheinischen Besitzungen verzichtete, besetzte Frankreich diese Gebiete, was besonders beim Adel zu Fluchtbewegungen führte. Unter diesem Eindruck schrieb Goethe Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, eine Novellensammlung, die er in Schillers Horen (Literaturzeitschrift 1795–1797) zu erstenmal veröffentlichte. Die letzte der »Erzählungen des nächsten Morgens und Abends« ist Das Märchen. Kunstmärchen waren beliebt, besonders Christoph Martin Wielands Dschinnistan, oder auserlesene Feen- und Geistermärchen, teils neu erfunden, teils übersetzt und umgearbeitet, erschienen 1786–1789, war ein großer Erfolg (darin findet sich die Vorlage für Die Zauberflöte). 

In Goethes Märchen tauchen ein gewaltiger Riese, eine grüne Schlange und eine schöne Lilie auf, wie man es von einem Märchen erwarten kann, aber auch ein Fährmann, ein König aus Erz und ein Habicht, Figuren, die in unserer Oper Spuren hinterlassen haben. Hofmannsthal erfand sein eigenes Märchen, das von der »Frau ohne Schatten«. Bald nach ersten Skizzen für ein Libretto – das als weitere Anregung auch Die Zauberflöte aufnimmt – arbeitete er auch an einer Novelle mit dem gleichen Titel, Die Frau ohne Schatten, die im Jahr der Uraufführung der Oper, 1919. erschien. Die Oper war 1917 vollendet, aber während des Ersten Weltkriegs war nicht an eine Uraufführung zu denken. Am 10. Oktober 1919 kam es in Wien zur Uraufführung mit Karl Aagard Østvig (Der Kaiser), Maria Jeritza (Die Kaiserin), Lucie Weidt (Die Amme), Richard Mayr (Barak, der Färber), Lotte Lehmann (Die Färberin), es dirigierte Franz Schalk. Am 22. Oktober folgte die Erstaufführung in Dresden unter der musikalischen Leitung von Fritz Reiner, die jedoch szenisch nach dem Urteil des Komponisten misslang, was dem Werk für einige Zeit den Ruf einbrachte, unspielbar zu sein. In München wurde noch im gleichen Jahr die Wiener Produktion in einer völlig anderen Besetzung gezeigt, es dirigierte Generalmusikdirektor Bruno Walter, es sangen Otto Wolf, Delia Reinhardt, Zdenka Faßbender, Emil Schipper und Margot Leander. Die Amme wurde also mit einer tieferen Stimme besetzt; zu Zdenka Faßbenders Repertoire gehörten Venus, Ortrud und Kundry, während Lucie Weidt in der Regel Elisabeth und Elsa sang. In Berlin dirigierte im folgenden Jahr Leo Blech (Richard Strauss hatte ja mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs seinen Generlamusikdirektorposten aufgeben müssen). Es sangen Robert Hutt, Lily Hafgren, Karin Branzell (eine noch tiefere Stimme als Faßbender), Karl Armster und Barbara Kemp. Aber so richtig verbreitete sich das Wek nicht. Erst 1932 kam es zum ersten Mal nach Salzburg, wo Clemens Krauss dirigierte und Franz Völker, Viorica Ursuleac, Gertrude Rünger, Josef von Manowarda sangen; von der Uraufführung blieb Lotte Lehmann. Bis 1940 kam es noch zu vereinzelten Aufführungen in Zürich, Venedig, Rom und Mailand. Aber erst nach dem Tod von Richard Strauss kam das Werk in das Repertoire der großen Opernhäuser und erst nachdem Bielefeld es mit einer Inszenierung von John Dew vorgemacht hatte, auch in das Repertoire von mittleren oder kleineren Häusern, die vor allem wegen der musikalischen Ansprüche bis dahin davor zurückgeschreckt waren.

Heute gehört Die Frau ohne Schatten zu den beliebtesten Werken von Richard Strauss, und dass man sie in Berlin in kurzem Abstand in zwei verschiedenen Inszenierungen sehen kann, spricht Bände. Die Oper Die Frau ohne Schatten besteht, darin ganz ähnlich der Zauberflöte, aus unendlich vielen Bildern, allerdings sind alle Verwandlungen mit entsprechender Musik von Strauss ausgestattet. Im ersten Aufzug gibt es nur eine Verwandlung, im zweiten sind es aber vier, im dritten drei. Insgesamt besteht die Oper also aus elf Bildern, vier davon stellen allerdings »das Färberhaus« dar, es sind also nur acht verschiedene Dekorationen nötig. Dennoch ist es ein immenser technischer Aufwand. 

Was bedeutet es, »einen Schatten zu werfen«? Einerseits ist der Schatten ein Symbol für Schwangerschaft, andererseits ist die Abwesenheit des Schattens ein Symbol für Keuschheit bzw. Jungfräulichkeit. Der Kaiser hat mit Hilfe seines Falken die Gazelle gefunden und war fasziniert davon, dass sie keinen Schatten warf, nahm sie mit nach Hause und sie verwandelte sich in die Kaiserin, mit der er aber offenbar keine Kinder zeugen konnte, denn sie wirft nach wie vor keinen Schatten.

Dies der Ablauf der Handlung:
Erster Aufzug – Die Kaiserin, Tochter des Geisterfürsten Keikobad, muss binnen drei Tagen einen Schatten werfen, sonst muss sie zurück ins Geisterreich und der Kaiser muss versteinen, das verkündet der Bote des Geisterfürsten. Der Kaiser bricht zu einer dreitägigen Jagd auf, bei der er seinen verlorenen Falken wiederzufinden hofft. Mit der Amme macht sich die Kaiserin auf zu den Menschen, um dort nach einem Schatten zu suchen. * Die Färberin streitet mit den Brüdern ihres Mannes, der sich nichts sehnlicher als Kinder wünscht. Kaiserin und Amme erscheinen in Verkleidung und wollen die Färberin mit dem Angebot ihrer Dienste als Mägde und allerhand Zaubertricks zur Hilfe überreden, also zur Abtretung ihres Schattens, den sie ja aber auch nicht hat, denn sie ist ebenso kinderlos wie die Kaiserin. Stimmen der ungeborenen Kinder erklingen, Wächter von den Zinnen der Stadt gemahnen an die Heiligkeit der Ehe.

Zweiter Aufzug – Der Färber ist bei der Arbeit, Kaiserin und Amme setzen ihre Bemühungen fort. Die Färberin bleibt unentschieden. * Der Kaiser hat den Falken wiedergefunden und wartet auf die Kaiserin. Er ist eifersüchtig, weil sie offensichtlich bei den Menschen war, und will die Kaiserin töten, bringt es aber nicht über sich. * Barak ist mit einem Schlaftrunk aus dem Verkehr gezogen, damit die Verführung der Färberin weiter gehen kann. Die weckt ihn aber auf, nur um weiter mit ihm zu streiten. * Die Kaiserin hat Schuldgefühle gegenüber Barak, will aber unbedingt den Kaiser retten. * Die Färberin ist entschieden, den Schatten zu verkaufen. Sie gesteht dies Barak. Der will sie töten, das Schwert ist aber nur Zauberspuk, von der Amme erschaffen.

Dritter Aufzug – Färber und Färberin sind getrennt voneinander in die Geisterwelt entrückt. Die Amme rät der Kaiserin zur Flucht, doch die will sich allen Prüfungen stellen (das mit den »Prüfungen« versteht man nur, wenn man Die Zauberflöte kennt). Die Amme wird in die Menschenwelt verbannt. * Die Kaiserin weigert sich selbst im Angesicht des erstarrten Kaisers, aus einem goldenen Quell zu trinken, um schwanger zu werden. Damit besteht sie ihre Prüfung und dadurch löst sich die Starre des Kaisers. * Kaiser und Kaiserin wie Färber und Färberin vereinen sich im allgemeinen Jubel. 

Es dauerte lange, bis die ersten Schallplattengesamtaufnahmen Die Frau ohne Schatten erschienen. Und die ersten waren Live-Aufzeichnungen, den Aufwand einer Studioproduktion scheuten die Schallplattenfirmen. DECCA brachte 1955 eine Aufführung der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Karl Böhm heraus, mit Hans Hopf, Leonie Rysanek, Elisabeth Höngen, Paul Schöffler und Christel Goltz (hier die Playlist bei YouTube). 1963 folgte die Deutsche Grammophon mit einer Stereo-Aufnahme aus München unter der Leitung von Joseph Keilberth mit Jess Thomas, Ingrid Bjoner, Martha Mödl, Dietrich Fischer-Dieskau und Inge Borkh (hier auf YouTube: 1. Akt, 2. Akt, 3. Akt). Und die Deutsche Grammophon brachte 1977 eine weitere Aufführung der Wiener Staatsoper mit Karl Böhm heraus, jetzt sangen James King, Leonie Rysanek (immer noch, 22 Jahre danach), Ruth Hesse, Walter Berry und Birgit Nilsson (hier auf YouTube). Es sollte noch zehn Jahre dauern und in die Zeit der digitalen Aufnahmetechnik reichen, bis die ersten Studioaufnahmen für CDs entstanden. Den Anfang machte EMI mit Wolfgang Sawallisch und dem Bayerischen Rundfunk; es sangen René Kollo, Cheryl Studer, Hanna Schwarz, Alfred Muff und Ute Vinzing (hier die Playlist). Es folgte Decca mit Georg Solti und den Wiener Philharmonikern; Placido Domingo, Julia Varady, Reihild Runkel, José van Dam und Hildegard Behrens formten ein Ensemble, das vermutlich auf der Bühne so nie zusammengekommen wäre (hier bei YouTube). Es folgte erneut eine Live-Aufnahme, ein Zusammenschnitt von mehreren Vorstellungen der Sächsischen Staatsoper, wo inzwischen Giuseppe Sinopoli als Generalmusikdirektor wirkte, im Herbst 1996 mit Ben Heppner, Deborah Voigt, Hanna Schwarz, Franz Grundheber und Hildegard Behrens (und auch das gibt es bei YouTube, hier). Ganz aktuell hängt eine Rundfunkübertragung von der Met im Netz. vom 7. Dezember, es dirigiert Yannick Nézet-Séguin, es singen Issachah Savage, Elza van den Heever, Nina Stemme, Michael Volle und Lise Lindstrom, hier, schnell zugreifen, wer weiß, wie lange sie bleibt.

Es gibt auch frühere Live-Aufzeichnungen, die nicht oder erst später auf Schzallplatte oder CD veröffentlicht wurden. Eine Aufführung der Semperoper von 1942 unter der Leitung von Karl Böhm scheint vom Rundfunk übertragen worden zu sein, daraus haben sich zwei Ausschnitte erhalten, »Sie haben es mir gesagt« mit Josef Herrmann (hier) und »Falke, du wiedergefundener« mit Torsten Ralf (hier). Torsten Ralf und Josef Herrmann sangen auch 1943 in Wien unter der Leitung von Karl Böhm, was hier in Ausschnitten dokumentiert ist. Eine komplette Aufführung aus München ist von 1954 überliefert, hier, Dirigent ist Rudolf Kempe, es singen Hans Hopf, Leonie Rysanek, Lilian Benningsen, Josef Metternich und Marianne Schech.

Die älteste Video-Aufnahme bei YouTube ist von 1975 und dokumentiert eine der berühmtesten Färberinnen, Birgit Nilsson, hier in Stockholm, dirigiert von Berislav Klobučar, Matti Kastu, Siv Wennberg, Barbro Ericson und Rolf Jupither sind mit von der Partie in der Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff.  Ferner ist diese Produktion der Salzburger Festspiele von 1992 zu sehen: Georg Solti dirigiert, es singen Thomas Moser, Cheryl Studer, Marjana Lipovšek, Robert Hale und Eva Marton. Die Inszenierung ist von Götz Friedrich, Bühnenbilder und Kostüme von Rolf und Marianne Glittenberg.

Mehr am Mittwoch in Zehlendorf, der Kurs ist dann vorerst zu Ende und wir sprechen darüber, wie es im Januar weiter geht.

Bis dann, Ihr Curt A. Roesler

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