Wenn wir annehmen, dass Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny eine Oper ist und nicht ein Schauspiel mit Musik oder ein Musical und daher ins Opernhaus gehört, gehört auch Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street ins Opernhaus. Zur Erinnerung: die Definition von Mahagonny als Oper im Gegensatz zur Dreigroschenoper als Schauspiel mit Musik, entspringt einer Absprache zwischen den Erben Brechts und Weills. Beide Stücke wurden am Ende der Weimarer Republik auf dem Ku'damm als Schauspielproduktionen herausgebracht.
In einer Serie von »Penny dreadfuls« (Groschenromanen) taucht Sweeney Todd 1846 erstmals auf. Als Autoren werden Thomas Peckett Prest (1810–1859) und James Malcolm Rymer (1815–1889) genannt, der eine begann seine Karriere als Musiker, der andere als Ingenieur und Verlagsmitarbeiter. The String of Pearls hieß die Serie, die 1850 auch in einem Buch zusammengefasst erschien. Da allerdings war Sweeney Todd bereits eine bekannte Bühnenfigur. 1847, gleich nach Erscheinen der ersten Folgen, hatte George Dibdin-Pitt im Britannia Theatre im Norden Londons ein Theaterstück The String of Pearls herausgegeben, das auch unserem Musical letztlich zugrunde liegt. Schon 1926 drehte George Dewhurst einen Kurzfilm Sweeney Todd nach der Dramatisierung Dibdin-Pitts, 1928 kam dann der britische Stummfilm von Walter West, den Sie hier (nicht ganz vollständig) sehen können. 1936 drehte George King den ersten Tonfilm mit wunderbaren Cockney-Dialogen, hier (vermutlich auch nicht ganz vollständig) zu sehen mit dem auf Verbrecher spezialisierten Tod Slaughter in der Titelrolle. Britische Fernsehfassungen folgten 1947 und 1970. 1970 endlich auch ein amerikanischer Horrofilm, Bloodthirsty Butchers. Im gleichen Jahr brachte der Schauspieler und Regisseur Christopher Bond im Victoria-Theater in Stoke-on-Trent (Stadt zwischen Birmingham und Liverpool) eine moderne Adaption des Stückes von Dibdin-Pitt heraus, die Sondheim 1973 kennenlernte. Das Musical (von Sondheim in einem Interview als »tiefschwarze Operette« bezeichnet) kam am 1. März 1979 im Uris Theatre am Broadway heraus und brachte es in 16 Monaten auf 557 Aufführungen. Neun Tony-Awards gewann das Musical 1979. Angela Lansbury musste erst überredet werden, die Rolle der Mrs. Lovett zu übernehmen. Da würde sie ja nur die »second banana« spielen, soll sie gesagt haben, denn die Hauptfigur sei und bleibe ja Sweeney Todd. Ein Amateurfilm hält die Uraufführungsproduktion hier fest.
Wie Roméo et Juliette beginnt Sweeney Todd mit einem Prolog: »Hört die Geschichte von Sweeney Todd, dem teuflischen Barbier aus der Fleet Street«. The ballad of Sweeney Todd, hier zu sehen bei einer Show zum Tony Award, erfährt nicht weniger als sieben Reprisen im Laufe des Stückes, zuletzt als Epilog. Warum auch nicht? Es ist wirklich gute Musik. Der von dem korrupten Richter Turpin einst nach Australien verbannte Barbier Benjamin kehrt unerkannt nach London zurück. Wenn man Johnny Depp im Kinofilm von 2007 so auf dem Schiff sieht, denkt man unwillkürlich an die Karibik, aber nein, im Hintergrund ist die Tower Bridge zu sehen. Er erzählt seinem Matrosen Anthony die Geschichte »A Barber and his wife«. Hier der Clip aus dem Film. Depp geht glatt als Engländer durch. Danach sehen wir Mrs. Lovett, die dem Unbekannten, der sich Sweeney Todd nennt, »The worst Pies of London« anbietet. Hier Angela Lansbury in der Original-Broadway-Produktion. Von ihr erfährt er, was mit Lucy passierte, als Richter Turpin deren Mann Benjamin mit falschen Anschuldigungen in die Verbannung schickte: Er hat sie vergewaltigt, sie hat sich, nachdem sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, vergiftet – »Poor thing« hier gesungen von Caryn Stringer am Prager Nationaltheater 2012. Johanna, das Kind Lucys (Johanna, wir werden sie gleich kennenlernen) wurde Turpins Mündel. Mrs. Lovett reicht Todd die scharfen Rasiermesser ihres früheren Nachbarn – »These are my friends«, hier aus einer Konzertaufführung 2001 in San Francisco mit George Hearn und Patti LuPone. Todd lässt jetzt durchblicken, dass er Benjamin ist. Unter seinem neuen Namen Sweeney Todd will er Rache nehmen, Gelegenheit für die erste Reprise der »Ballad«. Auftritt Johanna, die in einem Lied das Schicksal eingesperrter Vögel beklagt – »Green Finch and Linnet Bird«, hier gesungen von Cassandra Lemoine in einer Aufführung der Königlichen Oper in Kopenhagen. Von einer Bettlerin erfährt Anthony den Namen des Mädchens, in das er sich sofort verliebt hat, »Johanna« – so gesungen von Jamie Muscato in einer Produktion der Welsh National Opera 2015. Ein italienischer Barbier erscheint mit seinem Assistenten Toby. Sie bieten ein Elixir an, das jedem in kürzester Zeit eine glatte Haut verschaffen soll. Todd geht jedoch eine Wette ein, dass er mit seinem Rasiermesser schneller ist. Natürlich gewinnt er die Wette, wie hier in der New York Philharmonic bewiesen mit Kyle Brenn (Toby), Christian Borle (Pirelli), Bryn Terfel (Sweeney Todd) und Emma Thompson (Mrs. Lovett). Richter Turpin hat Schuldgefühle, weil er scharf auf Johanna ist, erst geißelt er sich, aber dann will er sein Mündel doch lieber einfach heiraten: »Johanna – Mea Culpa«, hier gesungen von Philip Quast. Todd lässt in seinem Barbershop Anthony sich und Johanna verstecken. Inzwischen entpuppt sich Pirelli als der einstige Assistent von Benjamin, der Todd an den Rasiermessern, die er benutzt, als diesen erkannt hat. Er will ihn erpressen, doch Todd schneidet ihm die Kehle durch. Das ist schon die Gelegenheit für die dritte Reprise der Ballade von Sweeney Todd. Anthony und Johanna bereiten inszwischen ihre Flucht vor während der Assistent Richter Turpins, Beard, Boden für seinen Meister gutzumachen versucht. »Kiss Me« und »Ladies in Their Sensitivities«, hier in der halbszenischen Aufführung von San Francisco 2001. Bleibt das Problem, wie der Tote wegzuschaffen ist. Bald (im zweiten Akt) gibt es weitere Tote, weil Todd nun durch Beard, Turpin und Anthony so in Rage gerät, dass er sich entschließt, an allen Londonern Rache zu nehmen. Mrs. Lovett hat die rettende Idee, alle in ihren Meat-Pies zu verarbeiten. »Epiphany« (hier hat jemand einen Interpretationsvergleich aufgestellt) und »A Little Priest«, Finale des 1. Aktes, hier Emma Thompson und Bryn Terfel.
Nach einigen Wochen ist aus dem Pie-Shop der Mrs. Lovett dank der neuen Geschmacksrichtung ein Bombengeschäft geworden. »God That's Good«. Sweeney Todd wird auf der ganzen Welt gespielt, siehe hier. Das Einzige, was Todd außer seiner Rache noch interessiert, ist, seine Tochter Johanna wiederzusehen. Auch Anthony sehnt sich nach ihr. Nebenbei aber beklagt sich die Bettlerin schon über seltsame Gerüche aus dem Pie-Shop. »Johanna (Quartet)«. Hier in der New Yorker Aufführung von 2014, aus der wir schon andere Ausschnitte gesehen haben. Derweil träumt Mrs. Lovett von einem Leben am Meer mit Todd. Hier ein Clip aus dem Film mit Johnny Depp. Anthony findet heraus, dass Johanna in einer Nervenheilanstalt festgehalten wird. Tobias, der Assistent Pirellis, ahnt, dass etwas mit Todd nicht stimmt, deswegen gibt er vor, Mrs. Lovett beschützen zu wollen: »Not while I'm around«, hier gesungen von Neil Patrick Harris in einer halbszenischen Aufführung mit Patti LuPone als Mrs. Lovett. Beadle, der Assistent des Richters Turpin soll den Pie Shop untersuchen, in ihrer Wohnung macht er sich am Harmonium zu schaffen und wird beim ausprobieren von entsprechenden »Parlor Songs« überrascht, hier die offizielle CD von der Originalproduktion. Der eine oder andere Dirigient sollte sich das vielleicht einmal anhören, bevor er sein Tempo angibt. (Es wird meist viel zu langsam intoniert.) Todd bietet Beadle eine Gratisrasur an, wir ahnen mit welchem Ausgang. Vom neuen Rasierstuhl fällt er direkt in den Keller. Nun hat Tobias den Beweis, Mrs. Lovett und Todd verabreden den Tod des unbequemen Zeugen. Inzwischen passiert ein anderer Mord. Anthony hat Johanna gefunden und auf der Flucht erschießt sie den Direktor der Nervenheilanstalt. Die Bettlerin sieht den Weltuntergang kommen: »City on Fire«, hier in einem Bewerbungsvideo mit Klavierbegleitung. Jetzt überstürzen sich die Ereignisse, die kaum in Worte zu fassen sind. Todd bringt wie erwartet Richter Turpin um, dann stellt sich heraus, dass die Bettlerin in Wahrheit Benjamins Frau Lucy ist und Todd wird auch wütend auf Mrs. Lovett, weil sie ihn offensichtlich angelogen hat. Er bingt sie um, ihm wird aber schließlich vom verrückt gewordenen Tobias mit seinem eigenen Rasiermesser auch der Hals aufgeschlitzt. Nach Mrs. Lovetts Rezept fängt Tobias nun an, Pies mit Menschenfleisch zu fabrizieren. Für einen Epilog kommen alle wieder, und sie singen die siebte und letzte Reprise der Ballad of Sweeney Todd. Hier noch einmal die Auführung der New York Philharmonic.
Wie jedes erfolgreiche Broadway-Musical kam auch Sweeney Todd sehr schnell an ein Theater im Londoner West End. Und wie üblich war dies eine Übertragung der Originalproduktion, aber mit vollem Probenprozess unter der Leitung des ursprünglichen Teams, hier also mit dem Regisseur Harold Prince. Diese Londoner Produktion wurde 1980 von einem Fernsehteam dokumentiert, wie sie hier sehen können. Stephen Sondheim wird darin ebenso ausführlich interviewt wie Christopher Bond.
Eine halbszenische Aufführung im New York City Centre 2001 mit dem San Francisco Symphony Orchestra mit George Hearn und Patti LuPone in den Hauptrollen und keinem Geringeren als John Aler als Beard hob das Werk in die Spähre der Klassik (hier eine Aufführung aus San Francisco). Aber spätestens seit Bryn Terfel (auch in einer halbszenischen Aufführung der New York Philharmonic unter Alan Gilbert) die Titelpartie übernahm (hier komplett zu sehen), reißen sich die großen Opernhäuser darum, das Werk zu präsentieren. Das Problem ist dabei nur, dass man Aufführungsrechte in der Regel nur bekommt, wenn man sich genauestens an die Bühnenanweisungen hält. Ein Regisseur in dem Sinne, wie wir das verstehen, ist also überflüssig, es reicht ein erfahrener Spielleiter. Den Kinofilm mit Johnny Depp bekommen Sie als DVD bzw. BD oder auch bei verschiedenen Streamingdiensten.
Am Mittwoch mehr davon, es hat wieder großen Spaß gemacht, das alles herauszusuchen.
Ihr Curt A. Roesler
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