Alexander Puschkin hat für die russische Oper mit eine ähnliche Bedeutung wie Victor Hugo für die italienische. Gerade steht an der Komischen Oper Berlin (im Schillertheater) die Premiere Der goldene Hahn von Nikolai Rimsky-Korsakow bevor – wir sprachen darüber im letzten Kurs. War es bei Hugo die Kraft der Erneuerung im Zuge der ersten biedermeierlichen Revolution, die den »Bürgerkönig« Louis-Philippe hervorbrachte, so ist es bei Puschkin vor allem die Besinnung auf die russische Tradition. Beispielhaft sind dabei das Versdrama Boris Godunow (Борис Годунов) und das unvollendete Drama Rusalka (Русалка). Alexander Dargomyshski war der erste, der (nachdem er Esmeralda nach Victor Hugo komponiert hatte!) einen Originatext von Puschkin als Libretto verwendete, eben Rusalka – darüber sprachen wir vor zwei Wochen kurz anlässlich der gleichnamigen Oper von Antonín Dvořák – und damit den Weg ebnete für Mussorgskis Boris Godunow. Noch vor Dargomyshski brachte Michail Glinka einen Stoff von Puschkin auf die Bühne ohne seine Worte zu benutzen, das Märchen Ruslan und Ludmila (Руслан и Людмила).
Von Peter I. Tschaikowskys 11 Opern gehen drei auf Puschkin zurück. Eugen Onegin, Mazeppa und Pique Dame. Eugen Onegin wurde 2008 von Achim Freyer an der Staatsoper Unter den Linden und 2016 von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin inszeniert; an der Deutschen Oper Berlin ist Eugen Onegin immer noch in der Inszenierung von Götz Friedrich verfügbar (einen Video-Trailer kann man auf der Homepage sehen, aber Aufführungstermine gibt es nicht). Die Produktion der Komischen Oper war eine der ersten, die bei OperaVision übertragen wurde. Wer es damals gesehen und aufgezeichnet hat, kann es weiterhin nachschauen. Mazeppa brachte Daniel Barenboim 2013 im Schillertheater heraus, da gibt es einen Beitrag aus den Anfangstagen dieses Blogs. Pique Dame sollte schon 2020 an der Deutschen Oper Berlin herauskommen, im März, als wir uns bereits als Online-Kurs etabliert hatten, bestand noch Hoffnung, dass es auch zu einer Aufführung kommen könnte, wenn auch möglicherweise ohne Publikum. Bald darauf musste die Produktion ganz abegsagt werden. Nun endlich, nach vier Jahren wird sie nachgeholt. Allerdings ist der Regisseur Graham Vick inzwischen verstorben. Der junge Regisseur Sam Brown übernimmt aber den Ausstatter Vicks, Stuart Nunn, und den Choreografen, Ron Howell.
Auch an der Komischen Oper wurde 2016 der russische Titel für Eugen Onegin verwendet, natürlich nicht mit kyrillischen Buchstaben, sondern in der gängigen Umschrift Jewgeni Onegin. So geschieht es jetzt auch an der Deutschen Oper, wo sie sich für Pikowaja Dama entschieden haben. Wenn Sie bei YouTube nach Opernaufführungen suchen wollen, ist das allerdings die am wenigsten gängige Form, Sie werden sogleich gefragt, ob Sie nocht vielleicht pikovaya dama gemeint haben. Pique Dame führt umwegloser zum Ziel, auch Glyndebourne und St. Petersburg werden gefunden. Wenn Sie auch historische Filme finden wollen, ist es eine gute Idee, die russische Form Пиковая дама einzugeben, YouTube kann Kyrillisch, allerdings werden dann auch Filme gefunden, die mit Tschaikowsky nichts zu tun haben; kopieren Sie den Titel einfach hier und setzen Sie ihn ein.
Das Libretto zu Pique Dame stammt von Tschaikowskys Bruder Modest und folgt der Novelle Puschkins in den wesentlichsten Zügen. Aus der Gegenwart Puschkins verlegte er die Handlung ins 18. Jahrhundert, in die Zeit der Zarin Katharina. Das gab Tschaikowsky Gelegenheit seine Stilstudien zu Rokokomusik (Stichwort: Rokoko-Variationen für Cello und Orchester und die Suite Mozartiana) einzusetzen. Außerdem wurde das Verhältnis Hermanns und Lisas mehr in den Vordergrund gestellt im Sinne einer scheiternden Beziehung – Tschaikowsky war immer noch gezeichnet vom Scheitern seiner Ehe.
Im ersten Akt lernen wir den melancholischen Offizier und Spieler Hermann (German ist der russische Name) kennen, der sich im Sommergarten ergeht. Ganz am Anfang steht ein Kinderchor – der hat nichts mit Puschkin zu tun. Tschaikowsky hatte in Paris Carmen gesehen und war vom Kinderchor im ersten Akt so fasziniert, dass er so etwas auch komponieren wollte. Hermann erfährt, dass die unbekannte Schöne, die Braut des Fürsten Jeletzki ist, eines guten Bekannten. Sie erscheint selbst Sommergarten mit ihrer Tante, der berühmt-berüchtigten Gräfin. Graf Tomsky weiß von ihr in einer Ballade zu berichten, dass ihr notorisches Glück im Spiel auf dem »Geheimnis der drei Karten« beruht. Das prägt sich Hermann ein, doch vorerst ist er nur darauf aus, dem Fürsten die Braut auszuspannen. Ein Gewitter treibt alle auseinander. Das zweite Bild des 1. Aktes führt uns in das Haus Lisas, der unbekannten Schönen. Sie musiziert mit ihrer Schwester Pauline, was die Gouvernante auf die Palme bringt, die den Zorn der Gräfin über das ausgelassene Gehabe der beiden fürchtet. Bettzeit. Aber Lisa will nicht, dass das Fenster geschlossen wird. So kommt Hermann über den Balkon in ihr Zimmer, um sie mit Selbstmorddrohung dazu zubringen, ihr Verlobung aufzulösen. Vor der Gräfin versteckt sie ihn und als die wieder gegangen ist, fällt sie ihm in die Arme.
Der zweite Akt beginnt mit einem Maskenball, auf dem Hermann von seinen Kameraden wegen seiner Obsession mit dem Geheimnis der drei Karten gehänselt wird und auf dem Jeletzki seine Liebe zu Lisa in einer Arie ausbreitet. Ein Schäferspiel wird aufgeführt, in dem traditionell Pauline eine Rolle übernimmt (in der Uraufführung war das noch nicht so). Lisa lässt Hermann den Schlüssel zum Zimmer der Gräfin zukommen, der sich damit am Ziel seiner Wünsche sieht, ehe eine Polonaise zur Ankunft Katharinas der Großen getanzt wird. Das zweite Bild bringt uns in das Zimmer der Gräfin, wo sich Hermann eingeschlichen hat und sich versteckt, als sie ihre Nostalgie mit einer Arie von Grétry pflegt. Danach aber will er ihr das Geheimnis der drei Karten entlocken. Sie bleibt stumm und als er sie mit der Pistole bedroht, trifft sie der Schlag. Lisa erkennt, dass Hermann mehr am Geheimnis interessiert war als an ihr.
Im dritten Akt treffen wir zuerst Hermann in seiner Stube. Er hat einen Brief von Lisa erhalten; sie bittet ihn zu einem Treffen am Kanal. Er fängt an zu fantasieren, der Geist der Gräfin erscheint ihm und sie nennt ihm die drei Karten: Drei, Sieben, As. Lisa wartet am Kanal, Hermann kommt und faselt nur von der Gräfin. Sie sieht alles verloren und stürzt sich in den Kanal. Das letzte Bild führt uns in die Spielhölle. In der Verzweiflung über die gelöste Verlobung kommt Jeletzki hierher. Tomski weiß noch ein lustiges Lied. Hermann spielt gegen Jeletzki, verliert aber, weil die letzte Karte nicht As sein sollte sondern Pique Dame. Er hört die Gräfin lachen und ersticht sich.
Aus dem überreichen Angebot bei YouTube seien hier drei herausgehoben: Bolschoi-Theater, Moskau in der heißesten Phase des Kalten Krieges, 1983, mit der nicht mehr ganz jungen (48 war sie, um genau zu sein) Tamara Milashkina als Lisa und dem unverwüstlichen Wladimir Atlantow als German – der Klassiker; nur zwei Jahre davor Köln, Gerd Albrecht dirigiert eine Neuinszenierung von Rudolf Noelte (der hatte ein paar Jahre zuvor die Opernwelt mit Eugen Onegin in München aufgemischt, wo Lenski sich in seiner Arie bincht bewegen durfte) mit René Kollo als Hermann und Martha Mödl als Gräfin, dazu das Hausensemble mit Uta-Maria Flake als Lisa an der Spitze – einige von Ihnen werden sich an Martha Mödl erinnern, sie sang die Gräfin 1978 an der Deutschen Oper Berlin, es dirigierte ebenfalls Gerd Albrecht; in Glyndebourne hatte Graham Vick die Oper schon 1992 inszeniert, es wäre sicher ganz anders geworden in Berlin, aber auch diese Inszenierung ist schon alles andere als konventionell – der Ton ist leider nicht ganz ideal, wenn Sie können, weichen Sie mit Ihrem Bibliotheksausweis auf medici.tv aus, da können Sie die Untertitel außerdem auch auf deutsch einstellen. Eine noch modernere aus Salzburg, 2018 von Hans Neuenfels inszenierte, mit ebenfalls einer unvergesslichen Gräfin, Hanna Schwarz, ist leider nicht mehr verfügbar.
Mehr dazu am Mittwoch.
Ihr Curt A. Roesler
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