Bis mindestens in die Mitte des 20. Jahrhunderts kannten nur Spezialisten für die Barockmusik den Namen Marc-Antoine Charpentier (1673–1704). Opern- und Stimmenfans hingegen kannten eventuell den Namen eines Opernkomponisten Charpentier, sein Vorname ist Gustave und er hatte 1900 Louise geschrieben, einen »musikalischen Roman«, eine naturalistische und im Prosa geschriebene Tragödie einer Schneiderin und eines Dichters – La Bohème lässt grüßen (G. Charpentier, 1860–1956). Gespielt wurde damals die Oper außer in Fankreich und an der Met so gut wie nie, die Arie »Depuis le jour« hingegen von jeder renommierten Sopranistin auf Schallplatten aufgenommen (Callas, Sutherland, Caballé... Fleming, Dreisig...). Auf Langspielplatten gab es seit 1956 auch eine Geamtaufnahme unter der Leitung von Jean Fournet, die lange die einzige blieb. Auch schon auf 78er Platten hatte es eine gekürzte Fassung gegeben und die Met hatte die Oper 1943 mit Grace Moore und Raoul Jobin in einer »Matinee« im Rundfunk übertragen.
Dann aber kam dies: Eurovision. 1954 in Genf gegründet, der Eurovision Song Contest wurde 1956 erstmals ausgetragen, Lys Assia gewann in Lugano mit »Refrain«. Nun kannten in Europa immer mehr Fernsehzuschauer ein Musikstück von Marc-Antoine Charpentier – die meisten allerdings ohne zu wissen, wer der Komponist ist. Wer allerdings in den Schallplattenläden stets auf der Suche nach neuen Aufnahmen war, konnte es wissen: 1953 hat Louis Martini mit dem Orchestre Pasdeloup das gesamte Tedeum aufgenommen, das gerade erst von der Musikwissenschaft wiederentdeckt worden war. Das war noch der Anfang der Beschäftigung mit Barockmusik, es wird auf modernen Instrumenten musiziert und es klingt recht harmlos. Dabei ist der lateinische Lobgesang aus dem 4. Jahrhundert »Tedeum« namentlich im Barockzeitalter zum unverhohlenen Siegesgeschrei (zur Feier des »Friedens«) mutiert. Insgesamt sechsmal hat Charpentier ihn vertont, vier der Kompositionen sind erhalten. Die infrage stehende in D-Dur (im Werkverzeichnis trägt sie die Ziffer H146) wurde zwischen 1688 und 1698 komponiert, also möglicherweise im August 1692 aufgeführt – Ludwig XIV. konnte am 3. August einen wichtigen Etappensieg im »Pfälzischen Erbfolgekrieg« (angezettelt von ihm selbst, um die Macht weiter nach Osten auszudehnen) erringen. Die Tonart D-Dur wird als »joyeux et très guerrier« charakterisiert, »fröhlich und sehr kriegerisch«. Das ist in dieser Aufnahme von William Christie und les Arts florissants auf originalen oder nachgebauten Barockinstrumenten, mit einer durchaus angemessenen Paukeneinleitung, besser eingefangen. Die anderen erhaltenen Kompositionen des »Tedeum« sind von der Musikwissenschaft etwas genauer datiert worden, das erste (H145) wurde 1672 komponiert, das dritte (H147) 1693 und das letzte (H148) 1699.
Nun aber zu der »Tragédie en musique« Médée. Diese spezielle französische Opernform mit fünf Akten (wie die gesprochenen »Tragédies« Racines, Corneilles und andere Zeitgenossen) und einem Vorspiel, das mit der Handlung nicht zusammenhängen muss, dafür aber den Hof einbezieht und den absolutistischen Herrscher – den Geldgeber – feiert, hat Jean-Baptiste Lully mit Thésée 1675 definiert. Der Librettist war Philippe Quinault, einer der Dramatiker, der heute nur noch wegen seiner Operntexte bekannt ist, der aber ein hochangeseher Autor seiner Zeit war. Das Autorengespann verfasste in der Folge sieben weitere »Tragédies lyriques« (zwei schrieb Lully außerdem noch mit anderen Autoren, darunter Thomas Corneille, auf den wir noch kommen werden), bis sie 1686 ihr Meisterwerk Armide herausbrachten; nur vierzehn Monate danach starb Lully an einer Blutvergiftung, die Verletzung hatte er sich selbst beim Dirigieren zugefügt. Thésée und Armide sind die Modelle, an denen sich der elf Jahre jüngere Komponist Marc-Antoine Charpentier zu orientieren hatte. Thésée hat dabei mehr mit Médée zu tun, als man vom Titel her vermuten würde: es geht hier nämlich nicht um den Theseus, der Ariadne befreit, sondern um den athenischen Königssohn und Thronfolger, der Medea heiraten soll, von der allerdings schon alle wissen, dass sie ihre Kinder getötet hat. Er liebt jedoch Prinzessin Aigle und Medea wird mehr und mehr zur Hauptperson, die im dritten Akt die Hölle heraufbeschwört und im fünften den Palast in Flammen aufgehen lässt. So ähnlich passiert es ja auch in Médée. Und Armida, eine Figur aus Torquato Tassos Kreuzfahrer-Epos Gerusalemme liberata, ist genauso wie Medea eine Zauberin. Im dritten Akt beschwört sie die Furie des Hasses herauf und am Schluss der Oper befiehlt sie den Dämonen, den Zauberpalast niederzureißen und fliegt in einem Wagen davon. Auch hier finden wir strukturelle Ähnlichkeiten in der Dramaturgie. Von Lullys Thésée gibt es bei YouTube nur diese Tonaufnahme mit Anne-Sofie von Otter und Emmanuelle Haïm. Der dritte Akt beginnt bei 1:29:10, die Beschwörung bei etwa 1:45:00. Und achten Sie auf den Schluss ab ca. 2:38:00, was da passiert, nachdem der Palast in Schutt und Asche liegt, darauf kommen wir noch zurück. Armide gibt es in einer Inszenierung von Robert Carsen aus dem Théâtre des Champs-Élysées, dirigiert von William Christie, hier der 1. Teil. Carsen fasst das Ganze als Museumsbesuch auf, das Publikum wird im Prolog vom Chor aufgesucht, der auf die nächste Führung durch den Palast von Versailles wartet. Die Solistinnen (La Gloire und La Sagesse, Der Ruhm und Die Weisheit) erläutern Bilder vom Sonnenkönig. Ein wenig schade ist, dass mehr als die Hälfte des Prologes nur aus Videos mit den Tänzern im Schloß und Schloßpark Versailles besteht. Renaud ist auch einer der Besucher, er schleicht sich in das Bett Ludwigs, wo er dann den Zauberkünsten Armides zu widerstehen versucht. Diese hat geschworen, nur den zu heiraten, der Renaud besiegt, da dies keinem gelingt, muss sie es im zweiten Akt selber tun, doch sie vermag es nicht, obwohl sie ihn in von den Nymphen in Zauberschlaf hat wiegen lassen, da kommt der Rachegedanke auf, der dann im dritten Akt in der Beschwörung des Hasses kulminiert (Auftritt Armide ca. 1:15:10). Der zweite Teil folgt hier. Die Beschwörungsszene des 3. Aktes beginnt bei ca. 13:10; der Schlußmonolog der Armide bei ca. 1:13:10. Bei Carsen fliegt Armide nicht davon, sondern sie ersticht sich selbst. Danach folgt das Divertissement, in dem ursprünglich der Hof wieder die Bühne betritt und gemeinsam mit dem König tanzt. Einen absolutistischen König gibt es heute nicht mehr, der Souverän ist das Volk. Die Museumsbesucher stürmen bei Carsen wieder herein und Renaud, der immer noch im Bett Ludwigs schläft, wird hinausgeworfen. Eine geniale Umsetzung der Prinzipien der Barockoper, wie ich finde.
Médée von Marc-Antoine Charpentier gehörte nicht zu den besonders erfolgreichen »Tragédies Lyriques«, sie wurde nur zehn Mal aufgeführt und verschwand dann, obwohl sie noch im gleichen Jahr gedruckt wurde. Eine Wiederaufführung in Lille 1711 wird gelegentlich erwähnt, sie ist aber nicht sicher verbürgt. Die »Académie Royale de Musique« jedenfalls befand sie keiner »Reprise« wert, anders als Armide, die bis 1766 auf den Spielplänen blieb und eine Art Nationaloper darstellte, bis sie 1777 durch die Vertonung des gleichen Textes durch Christoph Willibald Gluck abgelöst wurde. Mit Thésée hatte Jean-Joseph de Mondonville das Gleiche schon 1765 versucht, doch nach wenigen Aufführungen wurde seine Komposition auf Druck des Publikums wieder durch die ursprüngliche von Lully ersetzt.
Médée aber musste im 20. Jahrhundert in aller Form wiederentdeckt werden. Das geschah Anfang der 50er Jahre (wie die Wiederentdeckung des »Tedeum«) und weckte die Aufmerksamkeit der Kompositionslehrerin des Jahrhunderts, Nadia Boulanger. Mit ihrem Ensemble und Doda Conrad nahm sie 1951 die Arie des Créon »Noires divinités, que voulez-vous de moi« auf, hier zu hören. Zwei Jahre später zog sie mit ihrem Ensemble Vocal zu den Aufnahmestudios der DECCA in den USA, um dort größere Auszüge aus der Oper aufzunehmen. Sie können die einzelnen Arien und Szenen bei YouTube finden, wenn Sie in der Suche »medee charpentier boulanger« eingeben, als Beispiel hier »Noires filles du Styx«, der Anfang der Beschwörungsszene aus dem dritten Akt, gesungen von Irma Kolassi. Eine ganze Weile dauerte es dann noch, bis William Christie bei »harmonia mundi« eine Gesamtaufnahme herausbrachte, 1984 war das. Jill Feldman ist Médée, Agnes Mellon Créuse, Gilles Ragon Jason. Christie schreibt dazu: »Ich habe mich daher entschlossen, Sänger der ‘Arts Florissants’ für die Einspielung der Médée zu gebrauchen und nicht bekannte Sänger mit einer modernen italienischen Belcanto-Ausbildung.« Zehn Jahre später – inzwischen war das Zeitalter der CD heraufgebrochen – wiederholte er das mit komplett neuer Besetzung; zumindest Lorraine Hunt, die hier Médée singt, gehört zu dem internationalen Sänger-Zirkus, wenn auch als Spezialistin für die Moderne. 1984 gab es auch die erste moderne szenische Aufführung der Oper in Lyon, Michel Corboz dirigierte, von Robert Wilson stammte die Inszenierung. Nun war der Bann gebrochen, nach und nach erschienen an allen Theatern, die sich auch um Barockopern kümmerten, Inszenierungen, so. z. B. in Strasbourg, wo William Christie 1993 dirigierte, wie auch 2017 in Zürich, wo Andreas Homoki inszenierte. Und auch in Paris, wo die Oper im April/Mai 2024 gespielt werden wird, steht William Christie am Pult. Nicht so in Basel, wo die Oper 2015 Premiere hatte, in einer Inszenierung von Nicolas Brieger mit Magdalena Kožená alterinerend mit Solenn' Lavanant-Linke in der Titelpartie, hier dirigierten Andrea Marcon und Karel Valter. Eine Aufführung mit Kožená und Marcon gibt es auf YouTube zu sehen, leider allerdings mit falschem Seitenverhältnis, statt 16:9 kommt 4:3 heraus; Frau Kožená hat lange Beine, aber so lange auch wieder nicht... Interessant ist, dass Brieger neben zahlreichen kleineren Kürzungen (das wäre wahrscheinlich mit Christie nicht zu machen) auch den kompletten Prolog weglässt. Wir sind einmal gespannt, wie das in Berlin mit Simon Rattle und Peter Sellars gehandhabt werden wird. Brieger zeigt uns damit aber eine Deutungsmöglichkeit dafür, wieso das Werk im Barockzeitalter nicht so beliebt war, heute aber mehr und mehr Fans findet. Es fehlt das »Divertissement« am Ende, wo der Hof sich noch einmal selbst feiern kann. Mit Médées Verschwinden endet auch die Oper. Und die Soloszenen erinnern mehr an modernere Musik wie Gluck oder Mozart als an die Modelle von Lully. Außerdem haben Zeitgenossen Charpentier vorgeworfen, dass er zuviel Eigenes hineingebracht habe, und damit war gemeint: zuviel Italienisches. Nicht dass Charpentier Italiener gewesen wäre (das war Lully sehr wohl, aber er hatte sich perfekt assimiliert), er war vielmehr in Italien als Komponist ausgebildet worden. Und er hatte es nun gewagt, nicht nur im zweiten Akt eine »Italienische Sängerin« auftreten zu lassen, sondern er ließ sie auch in Italienisch singen, so wie den begleitenden Chor (zu hören ab 54:00). Italienisch aber hatte auf der königlichen Bühne nichts zu suchen, es sei denn in Form einer Parodie, wie es Campra 1699 im letzte Akt der Opéra-Ballet Le Carnaval de Venise vornahm. Wir haben darüber vor einem Jahr schon kurz gesprochen anlässlich Idoménée dieses Komponisten.
Thomas Corneille (1625–1709), der Librettist der Médée, war der jüngere Bruder des weit berühmteren Pierre Corneille (1606–1684), der 1635 eine Tragédie Médée verfasst hatte, schrieb zunächst Komödien, ab 1657 auch Tragödien, als Pierre nach dem Misserfolg mit Pertharite mehrere Jahre nichts mehr für das Theater schrieb. Timocrate wurde gleich einer der größten Theatererfolge. Bérénice und Darius folgten 1759. Bérénice wurde gewissermaßen obsolet, als sich Pierre Corneille und Jean Racine (1639–1699) 1770 um den Stoff stritten, wobei Racine als Sieger hervorging. – Berenike ist übrigens ein in der Antike weit verbreiteter Name, bei den Ptolemäern fast so beliebt wie Kleopatra, Händels Berenice (1737) ist eine andere. – Ab 1670, wenige Jahre bevor sich der Bruder gänzlich vom Theater zurückzog, schrieb Thomas Corneille wieder vermehrt Tragödien und 1678 verfasste er erstmals ein Libretto, die »Tragédie lyrique« Psyché, in Musik gesetzt von Jean-Baptiste Lully, der auf den bein Hofe in Ungnade gefallenen Philippe Quinault als Librettist verzichten musste. Darauf folgte im nächsten Jahr Bellérophon, ehe sich Lully wieder mit Quinault zusammentat. Mit Marc-Antoine Charpentier arbeitete Thomas Corneille 1675 erstmals zusammen, als der für seine »Pièce à machines«, die »Tragédie« Circé die Bühnenmusik schrieb. Nach Médée schrieb Thomas Corneille keine Libretti mehr und auch vom Theater zog er sich zurück, um eine Übersetzung der Metamorphosen des Ovid vorzulegen und für den Dictionnaire universel géographique et historique zu arbeiten.
So und nun freue ich mich auf das nächste Zehlendorfer Operngespräch. War etwa jemand schon in Chicago?
Ihr Curt A. Roesler
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