Montag, 28. August 2023

Albert Lortzing: Der Wildschütz

Albert Lortzing? Der Wildschütz? Das spielt doch gar keiner mehr in Berlin. Und sonst? Nun ja, in Gera wird es am 15. Oktober von dieser Oper eine Neuinszenierung geben. Aber weder in Braunschweig, noch in Dresden, wo es 2022 noch Premieren gab, steht die Oper in der Spielzeit 2023/24 auf dem Spielplan. Und auch die Musikalische Komödie, Teil der Oper Leipzig, die gerade noch, im Juni / Juli, ihre bestehende Inszenierung wiederaufgenommen hat, hat den Wildschütz wieder in die Magazine zurückgestellt; dafür wird sie sich in der kommenden Spielzeit der selten gespielten Oper Hans Sachs annehmmen.

Der Wildschütz ist, egal, ob er nun zu den viel gespielten Opern gehört oder nicht, einen genaueren Blick wert. Und das wird geschehen in der Sendereihe Interpretationen des Deutschlandfunk Kultur am 3. September, 15:05 Uhr und danach in der Mediathek für mindestens ein halbes Jahr. Darauf bereite ich mich gerade vor; und, wer weiß, vielleicht fält auch für die Zehlendorfer Operngespräche etwas davon ab. Interpretationsvergleiche sind ja sowieso mein Steckenpferd und da gibt es noch weit mehr zu entdecken, als was in den zwei Stunden beim Deutschlandfunk vorgestellt werden kann.

Lortzing (1801–1851) ist ein Komponist, dessen Verbreitung stark an die deutsche Sprache geknüpft ist. Das verbindet ihn mit einigen etwas jüngeren Zeitgenossen in Ländern, die im 19. Jahrhundert auf der Suche nach einer nationalen Opernsprache waren: Ferenc Erkel (1810–1893), Alexander Dargomyshski (1813–1869), Stanisław Moniuszko (1819–1872); man kennt sie vor allem in Ungarn, bzw. Russland, bzw. Polen, und sie beherrschen zwar das dortige Repertoire nicht, aber sie haben ein besonderes Gewicht. Bis vor dreißig Jahren konnte man genau das von Lortzing in Bezug auf das deutsche Reprtoire sagen; seither aber wurden die Aufführungszahlen, auch und gerade in der sogenannten »Provinz« geringer und geringer. Kann es sein, dass die Konkurrenz zweier deutscher Staaten eine besondere Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hat? Seine zwischen 1837 und 1851 geschriebenen Werke gehören nämlich zum Vormärz wie zum Biedermeier. In der DDR wurde eher der vormärzliche Lortzing gepflegt, in der alten Bundesrepublik eher der biedermeierliche – und das mit den gleichen Werken. Die Popularität seiner Melodien half der einen wie der anderen Interpretation. 

An der Deutschen Oper Berlin war 1980 (als ich dort meine Karriere als Dramaturg begann) noch Der Wildschütz in einer Inszenierung des ehemaligen Schillertheater-Intendanten Boleslaw Barlog von 1968 im Repertoire. In der Premiere haten noch Ernst Häfliger und Ingvar Wixell den Grafen und den Baron gesungen, abr seit der dritten Vorstellung waren Donald Grobe und Barry McDaniel die Zugpferde der Produktion, in ihrer künstlerischen Harmonie vergleichbar Fritz Wunderlich und Hermann Prey, die in einer Schallplattenaufnahme von 1966, die nach wie vor als Referenzaufnahme gilt, festgehalten sind. 1985 feierte Lortzing an der Deutschen Oper Berlin noch einmal Triumphe: Ein Bühnenbild von Martin Rupprecht fgür Zar und Zimmermann, das auf dem Skelett eines historischen Segelschiffes fußte und, auf eine Drehbühne gestellt, dem von Winfried Bauernfeind inszenierten Verwechsel- und Intrigenspiel mannigfachen Unterschlupf bot, verzauberte das Publikum nebst den frischen Stimmen von Wolfgang Brendel als Zar und Peter Seiffert als Chateauneuf.

In der Frühzeit des Fernsehens war die Popularität Lortzings im deutschen Sprachraum noch ungebrochen; eine der frühesten TV-Opern ist Der Wildschütz, aufgezeichnet 1958 im Carré-Theater in Amsterdam (1. Akt, 2. Akt, 3. Akt, nehmen sie das mit den Akten nicht zu wörtlich, die Orchester-Introduktion zur Griechenszene ist am Ende des »1. Aktes« zu finden und der »3. Akt« beginnt mitten in der Polonaise des Grafen). Laut der internationalen Filmdatenbank IMDb gab es 1956 schon eine NDR-Poduktion mit Anneliese Rothenberger als Baronin Freiann und Horst Günter als Graf Eberbach, Regie führte wie später bei der ZDF-Produktion von 1964 Herbert Junkers. Bei YouTube findet man außerdem eine Inszenierung des Münchner Theaters am Gärtnerplatz von 1998, aufgezeichnet 2001. Regisseur ist Claus Guth, den es gelingt, die Oper ins 20. (21.?) Jahrhundert zu holen. Einzige Wermutstropfen sind manche Kürzungen, wie z. B. die dritte Strophe des »A,B,C,D«-Liedes.

Spät stieg die Schallplattenindustrie ein – und bis heute beschränkt sich die Auswahl auf zwei Studio-Aufnahmen, nebst einigen Rundfunkmitschnitten, die als CDs herausgegeben wurden: Ende Mai 1964 begab sich Robert Heger mit Chor, Kinderchor und Orchester der Bayerischen Staatsoper in den Bürgerbräukeller für eine Aufnahme, die sich schnell als Referenzaufnahme herausstellen sollte; erste Solisten der Bayerischen Staasoper begleiteten ihn: Anneliese Rothenberger war die Baronin Freimann wie einst bei NDR, die Stars aber sind Fritz Wunderlich als Baron und Hermann Prey als Graf, dazu kommen Fritz Ollendorff als Baculus und Lotte Schädle als Gretchen. Produziert wurde die Aufnahme von EMI, was auch bedeutete, dass die Sänger selbst die (bearbeiteten) Dialoge sprachen. Fast 20 Jahre dauerte es bis die Deutsche Grammophon ein Konkurrenzprodukt anbieten konnte. Dafür ging sie 1981/82 ein »Joint Venture« mit Eterna ein und konnte den Rundfunkchor und die Staatskapelle aus Berlin, Hauptstadt der DDR, zu mehreren Aufnahmesitzungen in die Christuskirche nach Berlin Dahlem holen. Auch zwei Solisten waren damalige internationale Stars der DDR, Peter Schreier, der den Baron sang und Reiner Süß als Pankratius. Edith Mathis ist die Baronin in dieser Aufnahme, Gottfried Hornick der Graf, Doris Soffel die Gräfin, Georgine Resick Gretchen und Hans Sotin Baculus, es dirigiert Bernhard Klee. Diese beiden Aufnahmen sind zwar derzeit nicht so einfach lieferbar, aber bei den einschlägigen Streamingdiensten sind sie abrufbar. Dazu kommen noch einige Rundfunkmitschnitte, darunter die Aufnahme der Württembergischen Staatsoper unter Leitung von Ferdinand Leitner von 1958 bei Edinburgh Festival und ein Live-Mitschnitt aus Wien unter Heinz Wallberg, die beide bei den Interpretationen auch vorkomen werden.

Einzelaufnahmen von Arien, Duetten, Quartetten, Quintetten etc. gibt es jedoch auch schon aus der Anfangszeit der Schellackplatte. Frieda Hempel, seit einem Jahr Star an der New Yorker Metropolitan Opera, nahm im September 1913 »Auf des Lebens raschen Wogen« auf. Hier einmal nicht bei YouTube, sondern bei Archive.org. 1920 nahm die frisch von Haburg nach Wien gewechselte Elisabeth Schumann das Lob des Witwenstandes auf. Beide Aufnahmen haben ein frisches Tempo, neuere Aufnahmen betonen das »moderato« in der Tempoangabe »Allegro moderato« mehr. Auch das »Andantino« des »A, B, C, D«-Liedes des Baculus aus der Introduktion wurde früher frischer genommen, wie besonders vom erfahrensten Schallplattendirigenten aller Zeiten, Bruno Seidler-Winkler. In der Aufnahme von 1933 singt der frisch in die SA eingetretene Wilhelm Strienz den Baculus und Traute (Traude?) Machula das Gretchen. In 2'45" bringen sie alle drei Strophen unter. Das schnelle Tempo macht deutlich, unter welchem Druck der Schulmeister steht; und die dritte Strophe ist unverzichtbar wie das Dacapo in einer barocken Arie, denn nachdem Gretchen eine Strophe gesungen hat, klingt die jetzt wieder von Baculus gesungene Musik ganz anders, selbst das Fagott hat einen veränderten Klang.

Es lohnt sich aber auch, neuere Einzelaufnahmen anzuhören. Fangen wir mit auf die Introduktion folgenden großen Duett des Baculus mit Gretchen »Lass er doch hören« an. Wiederum von der Deutschen Grammophon produziert, im schon lange wiedervereinigten Berlin mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin unter seinem damaligen Generalmusikdirektor Christian Thielemann. Eine Lehrstunde des textdeutlichen Operngesangs auf einer austarierten Instrumentalbasis mit Christiane Oelze als Gretchen und einem Sänger, der zwar selten auf der Opernbühne zu erleben ist, dafür aber auch als Radiomoderator und -sprecher in Erscheinung getreten ist, als Baculus: Thomas Quasthoff. Auf der gleichen CD findet ich auch der Abschluss des 2. Aktes: »Fünftausend Taler«.

Bis bald, Ihr Curt A. Roesler

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.