Am Samstag schon hat die Komische Oper Berlin mit Das Floß der Medusa von Hans Werner Henze den Premierenreigen der Berliner Opernhäuser begonnen. Die Kritiken sind durchwegs positiv, die Vorstellungen sind bereits ausverkauft, auch die zusätzlichen. Sie haben hoffentlich schon Karten (oder haben das »Oratorio volgare e militare« im Tempelhofer Flughafen schon gesehen). Am Mittwoch verschaffen wir uns einen Überblick über die Berliner und auswärtigen Opernpremieren bis Januar 2024, damit wir gemeinsam entscheiden können, mit welchen Werken wir uns in den dann noch folgenden neun Kurs-Abenden befassen wollen. Für jetzt habe ich schon einmal Das Floß der Medusa vorbereitet, dessen Uraufführung 1968 (und nicht 1998, wie ein Druckfehler im Tagesspiegel glauben machen will) durch Proteste und Polizeieinsatz verhindert wurde.
Es handelt sich nicht um eine Oper, sondern um eine Art Requiem für die Schiffbrüchigen der Medusa von 1816, das allerdings in der Partitur einige szenische Anweisungen enthält. Ein Teil des Chores repräsentiert die Lebenden, ein anderer Teil die Toten; da im Laufe der Handlung sich die Zahl der Lebenden von ursprünglich 147 bis auf schließlich 15 reduziert, sollen Chormitglieder entsprechend von der Seite der Lebenden (links) auf die Seite der Toten (rechts) wechseln.
Die Medusa (oder französisch: Méduse) war eine Fregatte, die am 2. Juli 1816 auf die Arguin-Sandbank vor der Küste des heutigen Mauretanien gelaufen ist. Für die 240 Passagiere und Besatzungsmiglieder gab es längst nicht genügend Rettungboote, deshalb wurde ein Floß von 20 x 7 m gezimmert, das eigentlich von dem Verbund der Rettungsboote gezogen werden sollte, doch schon sehr bald wurde die Leine gekappt. So driftete das Floß ohne richtiges Ziel auf dem Ozean. Am 17. Juli wurden die letzten Überlebenden von der Brigg Argus aufgenommen und nach Saint-Louis im Senegal gebracht. Einer der letzten Überlebenden, der Arzt Jean-Baptiste Henri Savigny, verfasste auf dem Rückweg nach Frankreich auf der Corvette Echo am 22. August einen Bericht, worin er darlegte, dass die Politik letzlich für die Katastrophe verantwortlich war: Kommandant der kleinen Flotte, die den von den Engländern im Wiener Kongress wiedererlangten Senegal in Besitz nehmen sollte, war ein völlig überforderter Kapitän mit keinerlei Erfahrung und der einzigen Qualifikation, ein Royalist zu sein. Er hatte keine Ahnung und schlug die Warnungen erfahrener Offiziere in den Wind, weil sie Bonapartisten zu sein schienen. Der Bericht Savignys, der eigentlich nur für den Marineminister bestimmt war, fand seinen Weg in das Journal des Débats vom 13. September. Savigny bekam reichlich Scherereien, er wurde denunziert als derjenige, der die ganzen Gräuel auf dem Floß (Mord, Totschlag, Kannibalismus) zu verantworten hatte. Daher suchte er andere Augenzeugen, die seine Darstellung stützen konnten. Schließlich fand er in dem Ingenieur Alexandre Corréard einen Mitstreiter, mit dem er zusammen im folgenden Jahr einen ausführlichen Bericht in Buchform herausbrachte. (Zu empfehlen ist die deutsche Ausgabe von Matthes & Seitz aus dem Jahr 2003 – ISBN 978-3-95757-422-0 – mit sehr interessanten Vor- und Nachworten sowie einer Bildbetrachtung.) Inzwischen war der Kapitän auch schon von einem Militärgericht zu milden drei Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Die Monarchie befand sich ohnehin in der Krise, 1816 war »das Jahr ohne Sommer«, eine Hungersnot plagte weite Teile Europas; nur durch geschickte Zugeständnisse (keine Verfolgung von Plünderern, die nur aus Hunger handelten) konnte sich Louis XVIII. an der Macht halten. Im Folgejahr aber war die konstitutionelle Monarchie gefestigt und der Skandal des Buches führte zu einer breiten Diskussion der Aufarbeitung den napoleonischen Erbes, wie auch der Regierungsfähigkeit des vorletzten Bourbonen auf dem französischen Thron. Vor allem aber interessierte sich der junge Maler Théodore de Géricault für das Sujet als Vorlage eines Historienbildes. Mehr als ein Jahr arbeitete er daran, unterhielt sich mit den Autoren und malte zahlreiche Studien (ich empfehle die französische Wikipedia, dort sind viele dieser Studien und auch Frühfassungen des Gemäldes zugänglich). Das Bild wurde der Öffentlichkeit auf dem »Pariser Salon« 1819 unter dem Titel Scène d'un naufrage vorgestellt. Diese jährliche Kunstausstellung fand seit 1692 im Louvre statt und war bis 1848 bei freiem Eintritt zugänglich, seit 1815 waren auch Maler zugelassen, die nicht Mitglieder der Académie Royale waren. Louis XVIII. besuchte sah das Bild drei Tage vor der Eröffnung und soll zu dem Maler gesagt haben »LMonsieur, vous venez de faire un naufrage qui n'en est pas un pour vous« (»Monsieur, Sie haben einen Schiffbruch gemalt, der keiner für Sie ist«). Jedermann wusste natürlich um welchen Schiffbruch es sich handelte, erst später bekam das Bild den präzisierenden Titel Le radeau de la Méduse (Das Floß der Medusa). Noch heute hängt es im Louvre und ist ebenso eine Attraktion wie sie es 1952 war, als Peter Weiss Paris besuchte, was in der Ästhetik des Widerstands, geschrieben 1975–1981, seinen Niederschlag fand.
Es ist möglich, dass Peter Weiss Ernst Schnabel und Henze auf den Stoff aufmerksam gemacht hat, jedenfalls soll schon damals ein Text von Weiss über Géricaults Gemälde im Umlauf gewesen sein. Textgrundlage für das Oratorium sind Zeilen neben dem Bericht von Savigny und Corréard Zeilen aus der Göttlichen Komödie von Dante und aus den Pensées von Blaise Pascal.
Eine Woche vor der geplanten Uraufführung in einer Mehrzweckhalle im Hamburger Park Planten un Blomen erschien im Spiegel ein sehr negativer Artikel über Henze, in dem er als Salonkommunist diffamiert wurde, der von der kapitalistischen Welt, die er zu Bekämpfen vorgibt, höchst möglichen persönlichen Nutzen zieht. (»Mögen auch Che Guevaras Verdammte dieser Erde auf die Revolution warten -- Professor Henze schaut auf zu den Sternen. Er ist der Privatier der modernen Musik.«) Die Stiummung war aufgeheizt, Gruppen des Sozialistische Deutschen Studentenbundes aus Hamburg und Berlin standen sich gegenüber, der RIAS-Kammerchor weigerte sich, unter dem Porträt Che Guevaras zu singen, als Henze und die Solsiten die Bühne betraten, gingen Sprechchöre los (»Ho-Ho-Ho-Chi-Minh«), schließlich stürmte die bereitstehende Polizei den Saal und verhaftete u. a. den Librettisten. Das Konzert wurde abgeblasen, im NDR und WDR wurde die Generalprobe vom Vortag übertragen, die später auch als Schallplatte von der DGG veröffentlicht wurde. Die tatsächliche Uraufführung von Publikum kam erst 1971 in Wien zustande und schon 1972 kam es in Bremen zur ersten szenischen Aufführung.
Mehr dazu am Mittwoch in den »Zehlendorfer Operngesprächen«, Ihr Curt A. Roesler
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.