Wann in der ganzen Christenheit Ostern zu feiern sei, darüber diskutierten die Teilnehmer des ersten Konzils in Nicäa (Νίκαια, İznik) im Jahr 325. Der Auferstehung Christi sollte an einem Sonntag nach Frühlingsanfang und nach dem jüdischen Pessach-Fest gedacht werden. So ganz wurde man sich noch nicht einig, aber gut hundert Jahre später, als Leo I. Bischof von Rom und damit Papst war, gab es schon Berechnungen für die kommenden hundert Jahre und vor allem legte Leo die Abläufe der kirchlichen Feiern in diesem Zusammenhang fest. In der Woche der höchsten kirchlichen Feste sollte das Evangelium (die »frohe Botschaft«), das es in vier verschiedenen Fassungen (nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) gab, auch angemessen verkündigt werden. Am Palmsonntag und am darauf folgenden Mittwoch sollte das Leiden Christi so vorgetragen werden, wie es Matthäus berichtet, am Gründonnerstag nach Markus und am Karfreitag nach Johannes. Erst etwa zweihundert Jahre später wurde die zweite Lesung aus dem Matthäusevangelium durch die Lesung aus dem Lukasevangelium ersetzt. Diese Lesung erfolgte üblicherweise durch einen Diakon. Ob man dessen Vortrag nun als Gesang klassifizieren soll, bleibe dahingestellt. Ein priesterlicher Singsang wird es sicher gewesen sein. Eine Notenschrift oder so etwas Ähnliches gab es nicht, was uns eine Vorstellung geben könnte, wie das damals geschah. Auf jeden Fall war es noch ein weiter Weg bis zu den Passionsmusiken, die wir vor allem aus dem 18. Jahrhundert kennen. Im Laufe der Jahrhunderte bekam der Diakon Unterstützung für die Stellen mit direkter Rede. Ein Sänger aus dem Chor trug die Jesusworte vor und die Gruppe der Sänger wurden für alle anderen, »Turba« (»Volksmenge«) genannt, eingesetzt. Eine Vorstellung davon kann man in dieser Aufnahme der gregorianischen Fassung der Johannes-Passion gewinnen: alles ist einstimmig, der Evangelist ist immer der gleiche, Jünger oder Hohepriester werden von mehreren gesungen, einzelne Charaktere von Einzelstimmen.
Die Mehrstimmigkeit beginnt in der Kirchenmusik im 12. Jahrhundert mit der Schule von Notre-Dame (die ab 1163 in Paris entstehende Kathedrale ist gemeint, in der nach römischen Vorbild eine »Schola cantorum« eingerichtet wurde). Zuerst wurden in der Leidensgeschichte Christi die »Turbae« dreistimmig gesetzt. Bis es dazu Dokumente gibt, dauert es allerdings noch, die ältesten Zeugnisse stammen aus dem 15. Jahrhundert. Oft sind nur die Vertonungen des »Exordium« (die Ankündigung »Passio Domini Nostri Jesu Christi...«) und der Turbae überliefert. Wenn heute nun versucht wird, einen Karfreitagsgottesdienst aus dem 16. Jahrhundert zu rekonstruieren, wird die Lesung gern einem Schauspieler überlassen wie bei dieser Aufnahme (Playlist) der Johannespassion (1527) von Francesco Corteccia (1502–1571), die italienisch gesprochen und lateninisch gesungen wird. Die erste durchkomponierte Passion, von der es eine Aufnahme gibt, stammt von Cipriano de Rore, einem franko-flämischen Meister der 4. Generation, komponiert 1557. Hier hören Sie die gewohnte Aufteilung: hohe Stimmen für Pilatus und die Jünger, Chor für die Einleitung und für Hohepriester, Volk etc. tiefe Stimme für Jesus und mittlere Stimme für den Diakon/Evangelisten. Im Gegensatz zu Heinrich Schütz, der seine Johannespassion mehr als 100 Jahre später ausschließlich für Chor und Solisten a cappella schrieb, verwendet de Rore auch Instrumente zur Begleitung.
Die Matthäuspassion von Orlando di Lasso (1575) ist eine Zwischenstation, Rückgrat ist nach wie vor der psalmodierende Bericht des Evangelisten. Für die direkte Rede wird er von den übrigen Solisten unterbrochen, handelt es sich um mehrere Personen wie die Jünger, die Hohepriester etc. so werden sie vom Chor dargestellt, die beiden falschen Zeugen sind selbstverständlich zwei Knabensoprane, die nacheinander imitierend einsetzen; damit hat er aber auch ein Stilmittel gefunden, etwa den Verräter Judas, oder den unsicheren Kantonisten Petrus darzustellen: sie singen ebenfalls quasi mit doppelter Zunge.
Was wir heute als »Passion« kennen, ist vornehmlich beeinflusst von der Johannes-Passion (1724) und der Matthäus-Passion (1727 oder 1729) von Johann Sebastian Bach. Genau genommen handelt es sich dabei um Passionsoratorien, denn der Text des Evangeliums wird ergänzt durch kommentierende Arien und Choräle, die möglicherweise von der Gemeinde mitgesungen wurden. Die Tradition des Passionsoratoriums wurde durch zwei vielfach vertonte Libretti wesentich betimmt. 1712 veröffentlichte der Hamburger Naturlyriker Barthold Heinrich Brockes Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende JESUS, und wurde mit einem Schlag berühmt. Im steten Wechsel von Rezitativen, Arien und Chören (an die 100) wird die Leidensgeschichte nachgezeichnet, Bibelworte aus verschiedenen Evangelien zeichnen die Geschuchte nach. Der erste, der diesen Text vertonte, war typischerweise ein Hamburger Opernkomponist, Reinhard Keiser (hier eine Aufnahme, Playlist) aber auch Georg Friedrich Händel hat den Text in Hamburg zur Kenntnis genommen und wohl auch schon zumindest einzelne Sätze komponiert. Die Brockes-Passion von Händel (hier eine Aufführung aus Brixen) wurde 1719 in London erstmals aufgeführt, aber eine private Aufführung in Brockes großbürgerlichem Hamburger Haus hat es mögicherweise schon 1715 gegeben, 1716 ließ Georg Philipp Telemann seine Version in Frankfurt am Main (da war er noch, er kam erst 1721 nach Hamburg) zur Aufführung bringen. Insgesamt ist der Text von Brockes an die dreißig Mal komplett vertont worden und einzelne Arien tauchen da und dort auf. Einige finden sich auch in der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Reinhard Keiser hatte aber bereits 1705 die Tradition des Passionsoratoriums in Hamburg zusammen mit Christian Friedrich Hunold eingeführt, der sich als Dichter auch Menantes nannte. Der blutige und sterbende Jesus gibt es auch auf YouTube (Playlist) und ist nicht zu verwechseln mit der ebenfalls um 1705 (oder 1707) entstandenen Markus-Passion, die Johann Sebastian Bach 1726 und vermutlich auch noch später in Leipzig aufgeführt hat und die ihrerseits nichts mit der verschollenen Markus-Passion von Bach selbst zu tun hat. Wer diese Hamburger Markus-Passion komponiert hat, von der es selbstverdtändlich hier auch eine Aufnahme gibt, vermag die Wissenschaft bus heute nicht zu sagen, in Frage kommt sowohl Reihard Keiser wie auch sein Vater Gottfried.
Das katholische Gegenstück zur Brockes-Passion, die eine ausgesprochen norddeutsch-lutherische Angelegenheit ist, verfasste der berühmteste Operlibrettist des Jahrhunderts, Pietro Metastasio. Es ist einer der ersten Texte, die er als Wiener Hofdichter verfasste. Antonio Caldara komponierte ihn als erster 1730, es folgten etwa 70 weitere Vertonungen, um nur die bedeutendsten zu nennen: Niccolò Jommelli (1749, Rom), Ignaz Holzbauer (1754, Mannheim, davon gibt es keine Aufnahme), Josef Mysliveček (Florenz, 1773), Antonio Salieri (1777, wieder in Wien), Giovanni Paisiello (1782, St. Petersburg) 1. Teil; 2. Teil.
Man geht davon aus, dass Bach Passionsoratorien nach allen vier Evangelien geschrieben hat, erhalten sind jedoch nur die Johannes-Passion (hier dirigiert von Harnoncourt in Graz 1985) und die Matthäus-Passion (hier in einer Aufführung mit dem Tölzer Knabenchor in Brixen 2017); es gibt Rekonstruktionsversuche einer Markus-Passion, diese von Ton Koopman ist vielleicht am ehesten ernst zu nehmen. Jedenfalls hat Bach nicht jedes Jahr eine neue Passion für den Kirchengebrauch in Leipzig geschrieben, sondern die vorhandenen wieder verwendet und verfeinert. Nicht so Telemann, der in Hamburg mindestens 40 geschrieben hat, von denen 22 erhalten sind. 1722 begann er mit einer Matthäus-Passion, im Jahr darauf folgte eine Markus-Passion, dann eine Lukas- und schließlich eine Johannes-Passion, so dass er 1726 wieder mit einer Matthäus-Passion anfangen konnte, das hielt er durch bis in sein Todesjahr 1767, da war Markus dran. Wenn Sie sich auf die Suche machen, finden Sie den größten Teil der 22 erhaltenen Passionen von Telemann auf YouTube.
Weit mehr Verbreitung als Bach und Telemann fand, insbesondere in Berlin, Carl Heirich Graun mit seinem Der Tod Jesu von 1755 auf einen Text Karl Wilhelm Ramler. In diesem Passionsoratorium kommt nun gar kein direkter Bibeltext mehr vor, alles ist »Empfindsamkeit«. Ramler schrieb den Text im Auftrag der Schwester Friedrich II. ausdrücklich für Graun, doch Telemann vertonte ihn auch und ließ seine Komposition sogar eine Woche früher aufführen, hier das Konkurrenzprodukt. Auch Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel hat als Kirchenmusiker in Hamburg mehrmals den Bibeltext vertont und ein Passionsoratorium Die letzten Leiden des Erlösers geschrieben.
Im 19. Jahrhundert wurden so gut wie keine Passionen geschrieben. Die wenigen Ausnahmen stammen von Louis Spohr (Des Heilands letzte Stunden, 1834/35), César Franck (Les sept paroles du Christ sur la Croix für Solisten, Orgel, Cello und Chor, 1859), Heinrich von Herzogenberg (Die Passion, 1896) und Lorenzo Perosi (La passione di Cristo secondo san Marco, 1897) hier in einer szenischen Aufführung in einer Kirche in Gessate, einem Vorort von Mailand.
Herzogenberg und Perosi bereiteten gewissermaßen den Boden dafür, dass im 20. und 21. Jahrhundert wieder Passionen geschrieben wurden. Von Hugo Distler 1932/33 in der Tradition von Heinrich Schütz, von Frank Martin nach dem 2. Weltkrieg (Golgotha) zu den Höhepunkten von Penederecki (Lukas-Passion, 1962–65), Arvo Pärt (Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem, 1982) und Sofia Gubaidulina (Johannespassion, 2000)
Passionsmusik ist ein weites Feld. Ein eigenes Kapitel wären die Passionsspiele, die sich auch seit dem 16. Jahrhundert verbreitet haben, oder Jesus Christ Superstar, eine Passion in der Gestalt eines Musicals. Wir reden darüber am Mittwoch.
Ihr Curt A. Roesler
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