Jede Oper von Giuseppe Verdi ist ein Unikat, für jede hat der Komponist neue Lösungen erfunden. Massenware, wie sie von Komponisten des 18. Jahrhunderrts verfertigt wurde war nicht sein Sache. Dennoch gibt es Beziehungen zwischen den Werken, die ein feines Geflecht der Individualität bilden, an der man seinen Stil erkennen kann. Oft hat er sich zwei oder drei Mal den gleichen Autor zur Vorlage genommen, oder er auf einen Schauplatz zurückgekommen oder eine Grundsituation. Ein Autor war ihm sogar so wichtig, dass er vier seiner Dramen zum Ausgangspunkt für eine Oper genommen hat: Friedrich Schiller, von dem er sogar eine berühmte dramatische Szene in ein ganz anderes Werk eingeführt hat, die »Kapuzinerpredigt« in La forza del destino. Das im Mittelalter geschaffene politische Amt des Dogen hat er zwei Mal in das Zentrum eine Oper gesetzt, einmal ist es der Doge von Venedig, das ist es bei I due Foscari, und einmal ist es der Doge, und zwar der erste Doge von Genua: Simon Boccanegra. Und in dieser Oper dreht es sich nicht nur zum zweiten Mal um einen Dogen, sondern zum zweiten Mal gab ein spanischer Autor die Vorlage, der im gleichen jahr geboren wurde wie Verdi, Antonio María de García Gutiérrez. Der hatte mit 22 Jahren einen Welterfolg gelandet mit einem Drama im Stil von Victor Hugos Ernani, El trovador. Die französische Fassung hatten die Verdis spätestens 1850 in Paris kennen gelernt, Giuseppina Strepponi fertigte eine Übersetzung ins Italienische an. Die Oper Il trovatore, die zu den größten Erfolgen verzögerte sich, weil der berühmte Librettist, den Verdi zur Mitarbeit gewonnen hatte, Salvatore Cammarano (von ihm sind drei frühere Libretti für Verdi, aber auch Lucia di Lammermoor) im Juli 1852 verstarb. Damit hatte Verdi nur noch einen Librettisten, dem er absolut vertraute, Francesco Maria Piave. Ihn beauftragte er auch nach den Enttäuschungen in Paris 1855 (Les vêpres siciliennes waren zwar ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik, aber Verdi selbst war nicht zufrieden und das Werk verschwand auch bald wieder von den Bühnen zugunsten der französischen Fassung des Trovatore) mit der Arbeit an einem neuen Libretto, wofür er abermals ein Werk von Gutiérrez als Vorlage wählte.
Simon Boccanegra kam 1857 in Venedig heraus, mit mäßigem Erfolg, es war kein Fiasko wie sechs Jahre vorher La Traviata, aber Verdi kam es so vor. Simon Boccanegra, wie wir die Oper heute kennen und schätzen, unterscheidet sich allerdings ganz wesentlich von der ersten Fassung. Der Verleger Giulio Ricordi klopfte immer wieder bei Verdi an mit der Idee, die Oper einer Revision zu unterziehen, um sie doch auch an der Mailänder Scala herausbringen zu können. Doch Verdi lehnte mehrere Male ab. Ricordi hatte erst ein schlagendes Argument, als er einen Librettisten gefunden hatte, der auch das Libretto überarbeiten würde. 1876 war Francesco Maria Piave gestorben, Verdi wollte nichts mehr komponieren, aber Ricordi wollte natürlich noch weiter an Opern von Verdi Geld verdienen. Also verfolgte er einen Plan, Otello. Und dafür hatte er bereits den Librettisten, den auch als Komponist erfolgreichen Arrigo Boito. Verdi willigte in die Revision des Simon Boccanegra also ein, um damit ein Gespür zu bekommen, ob Boito für ihn als Librettist etwas tauge.
Und ob er etwas taugte! Er forderte Verdi zum Besten heraus, was er bis dahin geschrieben hatte. Das neu komponierte Finale des 1. Aktes steht auf der gleichen Höhe wie die beiden letzten Werke von Verdi, Otello und Falstaff. Wir haben uns bei Fidelio auch schon mit der Frage von Umarbeitungen befasst. Auch dort war unbestreitbar, dass der Komponist gute Gründe hatte, einzelne Takte, ja manchmals sogar nur einzelne Töne zu ändern. Auch hier ist unbestreitbar, dass das Werk seine endgültige Form erst zuletzt gefunden hat. Aber auch hier ist es interessant, sich auch einmal die frühe Fassung anzuhören. Hier finden Sie eine Übertragung aus Parma vom 14. Oktober letzten Jahres. Es lohnt sich natürlich vor allem, wenn man die endgültige Fassung ganz gut kennt. Man hört dann immer wieder – gerade in den stark überarbeiteten Partien – bekannte Melodien in anderem Zusammenhang oder auch einfach ganz anders begleitet. Als Beispiel sei hier die Arie der Amelia vom Beginn des zweiten Bildes genannt: Hier ist die Fassung von 1857 (mit einer Cabaletta, die Verdi in der endgültigen Fassung wegließ und die 1881 auch sicher nicht mehr zeitgemäß war); es fehlt die impressionistische Begleitung, die den Verdi nach Aida charakterisiert. Hier hören Sie sie in einer Aufnahme, die bei mir viele Erinnerungen weckt: Mit Maria Chiara und Nello Santi am Pult habe ich sehr viele Verdi-Vorstellungen in Zürich in den frühen 70er Jahren gesehen. Ich bin mir allerdings nicht mehr sicher, ob Simon Boccanegra auch dabei war.
Von den seltener gespielten Opern Verdis erfreut sich Simon Boccanegra einer besonderen Beliebtheit. An der Deutschen Oper Berlin und deren Vorgängerinstitutionen steht die Oper jetzt seit 1930 zum siebten Mal in einer Neuinszenierung auf dem Spielplan. Während an der Mailänder Scala seit der Neufassung 1881 Simon Boccanegra immer wieder gespielt wurde, ging es international um 1930 so richtig los, hier in Berlin sang Hans Reinmar die Titelpartie unter der Leitung von Fritz Stiedry. Aber auch in Wien kam in diesem Jahr das Werk (nach 1882 zum ersten Mal wieder) auf den Spielplan, dort dirigiete Clemens Krauss. 1932 kam das Werk an die Metropolitan Opera, dirigiert von Tullio Serafin mit Lawrence Tibbett, Maria Müller, Ezio Pinza und Giovanni Martinelli. 1935 und 1939 wurden Aufführungen im Rundfunk übertragen, die sich erhalten haben und nun die ältesten Gesamtaufnahmen der Oper darstellen. Elisabeth Rethberg hatte inzwischen Maria Müller als Amelia ersetzt. 1933 wurde mit dem Ensemble der Berliner Staatsoper ein Aussczhnitt aus dem Finale des 1.Aktes aufgenommen, Heinrich Schlusnus, der dort u. a. Monfort in Die sizilianische Vesper war, singt den Simon Boccanegra (hier).
1951 hat die italienische Rundfunkanstalt RAI einen großen Teil der bis dahin kaum bekannten Opern von Verdi zu dessen 50. Todestag im Studio produziet und gesendet. Später sind diese Aufnahmen auf dem italienischen Label Cetra erschienen und noch später hat das amerikanische Label Everest die Aiufnahmen aufgekauft, allerding mit einer Stereophonisierung und Hinzufügung von Hall sie auch ein wenig verdorben. Ein sensationelles Debüt verbirgt sich im Simon Boccanegra von 1951: Carlo Bergonzi singt den Gabriele Adorno (hier der Youtube-Link zur stereophonisierten Fassung komplett, und hier zur großen Szene des Adorno und der Amelia, über die wir am Mittwoch sicher auch sprechen werden). Die bis heute kaum übertroffene Schallplattenaufnahme stammt von der DGG aus dem Jahr 1978, es dirigiert Claudio Abbado, die Titelpartie singt Piero Cappuccilli, Amelia und Fiesco sind das Ehepaar Mirella Freni und Nicolai Ghiaurov, Gabriele Adorno singt José Carreras; hier gibt es eine Watchlist für YouTube. Aber Sie finden sie natürlich auch bei den bekannten Streaming-Diensten, Naxos Music Library, Spotify, Deezer etc. Nur als CD ist sie derzeit offenbar nicht lieferbar. Claudio Abbado hat Simon Boccanegra nicht nur an der Scala dirigiert, sondern auch auch in Wien und in Paris jeweils in der berühmten Inszenierungn von Giorgio Strehler, zur 750-Jahr-Feier war die Wiener Staatsoper damit such an der Deutschen Oper Berlin. Eine Aufzeichnung aus Paris mit schlechtem Fernsehton ist hier zu finden.
Guglielmo Boccanegra ist einer der ältsten bekannten Regierenden der Republik Genua; er wurde nach einem Volksaufstand 1257 zum »Capitano del Popolo« (»Hauptmann des Volkes«) ernannt. 1260 ließ er den Palazzo San Giorgio errichten, den künftigen Regirungssitz der Republik. Schon 1262 wurde er wieder entmachtet, die Regierungsgewalt ging wieder an die Guelfen über. Sein Nachfahre Simone kam unter ähnlichen Umständen 1339 an die Macht, als Parteigänger der Ghibellinen. Er erhielt als erster die Bezeichnung Doge (Duxe im ligurischen Dialekt). Dass er davor ein Korsar gewesen sei, ist wohl eine Erfindung von Gutiérrez, aber mit der Seefahrt wird er schon zu tun gehabt haben, denn das Mittelmeer war schwer umkämpft und wenn man sic dort nicht bewähren konnte, hatte man keine Chance. Genua hatte Interessen in Nordafrika und ein Bruder Boccanegras stand als Admiral in den Diensten von Alfonso XI. von Kastilien bei dessen Kampf gegen die Mauren bei Algeciras 1344. Simones Macht war nicht unumstitten, schon im ersten Regierungsjahr deckte er eine Verschwörung auf und ließ eine Leibgarde von 103 bewaffneten Männern aufstellen. 1345 trat er zurück, doch 1356 erlangte er erneut das Dogenamt. 1363 starb er, möglicherweise vergiftet. Sein Nachfolger, und damit der vierte Doge von Genua war Gabriele Adorno. Eine seiner ersten Amtshandungen war die Verbannung der Boccanegras aus Genua. Der Friedensshcluss mit der Replubik Venedig, zu dem tatsächlich Petrarca in Briefen an das Volk und den Dogen von Grenua drängte, kam unter ihm zustande. Auch Adorno übernahm sich und musste zum 1370 aus Genua fliehen.
Simon Boccanegra folgt ebensowenig wie Don Carlos oder irgend eine der anderen großen Opern mit historischem Hintergrund, der Geschichte. Es ist ein Drama über Pflicht und Neigung, ein Drama über persönliche Interessen und politische Aufgaben. Und es ist eines, das sich mit einigen Situationen besonders einprägt. Shakespeare, Schiller, Victor Hugo sind die dramaturgischen Vorbilder. Der Prolog (der in der revidierten Fassung ausdrücklich nicht mehr zum 1. Akt gezählt wird) spielt 25 Jahre vor den drei folgenden Akten. Wenn man so will spielt er also 1339, während der Rest 1363 oder kurz davor spielt. Simon Boccanegra (vermutlich folgt Verdi der spanischen Tradition indem er das »e« bei Simone konsequent weglässt) ist also wie schon erwähnt ein Korsar in genuesischen Diensten. Er macht also Jagd auf die Feinde Genuas im Mittelmeer, ohne selbst eine grenuesische Flotte zu sein. Dass er als solcher nicht zu den höchsten Adelskreisen gehören kann, versteht sich von selbst. Er liebt aber die Tochter des Anführers der größten Adelspartei, des Fiesco. Und sie erwartet ein Kind von ihm. Fiesco hat die Tochter weggesperrt. Sie stirbt bei der Geburt. Fiesco betrauert seine Tochter es wird ein Miser4ere gesungen, das ganz an die Anderer Oper nach García Gutiérrez erinnert, Il trovatore. Als Simon endlich in den Palast gelassen wird, findet er die tote Braut, wieder herauskommend wird er als Doge gefeiert. Im 1. Bild des 1. Aktes begegnen wir zunäcst einer gewissen Amelia Grimaldi und ihrem Verlobten Gabriele Adorno. Aus irgend einem Grund hegt sie Sympathie für den Dogen und versucht Gabriele von seinen Umsturzplänen abzuhalten, die er zusammen mit Fiesco schmiedet, der als »Andrea« untergetaucht ist. Da kündigt sich der Doge selbst an. Er will das Haus der Grimaldis besuchen, seine Absicht ist, Amelia zu einer Heirat mit Paolo zu bewegen, einem wichtigen Parteigänger für den Dogen. Im Laufe des Gesprächs stellt sich jedoch heraus, dass Amelia gar nicht wirklich eine Grimaldi ist, sondern die totgeglaubte Tochter Boccanegras; sie wurde von den Grimaldis geraubt und anstelle eines verstorbenen Kindes aufgezogen. Boccanegra will daher nichts mehr von einer Heirat mit Paolo wissen. Der tut sich jetzt mit Fiesco/Andrea zusammen und plant die Entführung Amelias – und gleichzeitig die Entmachtung Boccanegras. Das 2. Bild des 1. Aktes spielt im Ratssaal des Dogenpalastes. Zunächst wird Frieden mit den Tartaren beschlossen und der erwähnte Brief Petrarcas wird verlesen, Frieden mit Venedig lehnen die Senatoren aber ab. Auf den Straßen gibt es einen Aufruhr. Gabriele Adorno wird von der Menge verfolgt, die gleich die Entmachtung der Patrizier und die Absetzung des Dogen fordern. Boccanegra aber stellt sich der Menge und wird respektiert. Gabriele hat einen gewissen Lorenzino erschlagen, der Amelia entführen wollte. Gabriele und Fiesco/Andrea werden festgesetzt. Boccanegra erkennt jedoch, dass Paolo hinter der Entführung steckt und lässt ihn einen Fluch gegen den Schuldigen aussprechen, also gegen sich selbst. Im 2. Akt sind wir in einem Zimmer des Dogenpalastes, wo Paolo die beiden Gefangenen herführen lässt, der sich nun an die Spitze der Verschwörung stellen will. Fiesco lehnt es ab den Dogen meuchlings zu ermorden, Paolo hat aber schon Gift in einen Becher geträufelt. Bei Gabriele hat er etwas mehr Glück, er weckt dessen Eifersucht, indem er behauptet, Amelia sei die Geliebte des Dogen. Sie kann seine Eifersucht nicht zerstreuen, aber Boccanegra gibt sie zu verstehen, dass sie an der Seite Gabrieles sterben wird, wenn er ihn als Aufständischen hinrichten lassen will. Sie geht, er trinkt aus dem Becher und schläft ein. Gabriele, der sich auf dem Balkon versteckt hatte, kommt zurück und wird von der wieder eintretenden Amelia gehindert, den Dogen zu ermorden. Dieser gibt nun zu erkennen, dass er der Vater Amelias ist und Gabriele ist jetzt bereit, an der Seite des Dogen zu kämpfen und den Aufstand niederzuringen. Doch es ist zu spät, wie wir im 3. Akt erfahren. Der Doge stirbt an dem Gift, das er getrunken hat, zuerst kommt es aber noch zu einer Versöhnung mit Fiesco, dem er enthüllt, dass er der Großvater Amelias ist. Gabriele Adorno wird der nächste Doge.
Bis Mittwoch, Ihr Curt A. Roesler
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