Dienstag, 10. März 2020

Thaïs – die Oper

Einige der berühmtesten Opern gehen auf einen Roman zurück. La Traviata sei genannt, La Bohème und Manon Lescaut. Doch Vorsicht; meist ist der Zwischenschritt über eine Dramatisierung als Schauspiel evident. So etwa ganz eindeutig bei La Traviata, die auf die Dramatisierung der Dame aux camélias von Alexandre Dumas selbst basiert. Bei Massenet scheint es etwas anders zu sein. Auch ansonsten hat Verdi meist Schauspiele als Vorlagen benutzt, sehr berühmte etwa von Schiller (vier Mal) und Shakespeare (drei Mal). Etwas anders sieht es bei Jules Massenet aus. Die zwei berühmtesten Opern, Manon und Werther basieren auf ebenso berühmten Romanen von Abbé Prévost bzw. Johann Wolfgang Goethe. Auch Don Quichotte scheint auf einem Roman zu basieren, aber hier ist es etwas komplizierter. Die Figur der Dulcinée weicht so stark von der entsprechenden Figur im Roman von Cervantes ab, dass die Oper ohne das Schauspiel Le Chevalier à la longue figure von Jacques Le Lorrain gar nicht denkbar ist. Wir sprachen darüber, als Massenets Comédie-heroïque an der Deutschen Oper Berlin neu inszeniert wurde.
Schon der erste Opernversuch, den Massenet 1865, mit 23 Jahren unternahm,  basierte auf einem Roman. Die unvollendete Oper Esmeralda war (wie noch ein paar andere Werke mit diesem Titel) eine Opernfassung des Romans Notre-Dame de Paris. 1482 von Victor Hugo. Hérodiade, noch vor Manon entstanden, fußte auf der gleichnamigen Erzählung von Gustave Flaubert aus den Trois contes. Oscar Wilde benutzte etwas später die gleichen Quelle für seine Salomé. Mit diesem Werk war Massenet schon einmal ein die Sphäre eigetaucht, die er mit Thaïs weiter nutzen wollte und sollte: die »exotische« Welt des vorderen Orients mit den schwülstigen Farben der Odalisken und den frommen Gesängen der religiösen Eiferer.
Die Anregung, den skandalumwitterten Roman von Anatole France zur Vorlage seiner neuen Oper zu nehmen, kam vom Verleger Henri Heugel. Massenet griff die Idee schnell, auf und wusste siliert, wer die Titelpartie zu singen habe: die amerikanische Sopranistin Sybil Sanderson, die an der Opéra-Comique bereits als Esclarmonde in Massenets vorvorangegangener Oper Furore gemacht hatte. So wurde Thaïs als Werk für die Opéra-Comique konzipiert, denn Sybil Sanderson war inzwischen dort die Primadonna assoluta. Das hatte aber kaum Konsequenzen für die Form der Oper, obwohl noch keine zwanzig Jahre seit der Premiere von Bizets Carmen vergangen war, die noch eine ganz eindeutige »opéra comique« ist. Wie schon bei Esclarmonde (die sich an Wagner orientiert) suchte Massenet nach einer Musiksprache, die keine formalen oder lokalen Grenzen kennt. Sanderson hatte inzwischen in London und St. Petersburg gastiert und das Debüt in New York stand unmittelbar bevor. Also wollte sie vom Direktor der Opéra-Comique mehr Geld. Der weigerte sich und Sanderson wechselte an die Opéra. Und mit ihr das Opernprojekt von Massenet, das am 16. März 1894 dort aus der Taufe gehoben wurde. Mit durchaus gemischtem Erfolg. Der Einfluss der katholischen Kirche, die sich noch an Anatole France abarbeiten musste, mag den einen oder anderen Kritiker zu seiner negativen Haltung gebracht haben. Auf der anderen Seite reichte auch der angebliche Busenblitzer der Protagonistin nicht dafür aus, das Werk zu einem solchen Skandal zu machen, dass »man« es unbedingt gesehen haben musste. Jedenfalls arbeitete Massenet die Oper in der Folge noch einmal um und die Fassung, die wir heute kennen, erschien am 13. April 1898 erstmals im Palais Garnier der Pariser Opéra, wiederum it Sybil Sanderson in der Titelpartie. Nach der Jahrhundertwende kamen mit Geraldine Farrar und Mary Garden zwei jüngere Interpretinnen, die dem Werk weitere Aufmerksamkeit brachten; in den 1920er Jahren löste Maria Jeritza Mary Garden an der Met ab.
Die sieben Bilder, »Tableaus«, der drei Akte sind ganz im Sinne der Grand Opéra Meyerbeers aufgebaut. Sie führen uns von der »Thebais«, der Gegend um die antike Stadt Theben in Oberägypten, nach Alexandria am westlichen Nildelta und wieder zurück.
1. Akt, 1. Bild: Der zenobitische Mönch Athanaël (Paphnutius bei Roswitha von Gandersheim und bei Anatole France) kehrt in die klösterliche Gemeinschaft zurück, beseelt vom Gedanken, gegen die Sünde in Alexandria zu kämpfen. Der Abt Palémon warnt ihn vergeblich davor, sich in das weltliche Leben einzumischen. Als er in einer Vision die Schauspielerin und Kurtisane Thaïs in ihrem lästerlichen Tun sieht, entschließt er sich aufzubrechen. Er stürmt hinaus in die Wüste. 1. Akt 2. Bild: Athanaël ist in Alexandria angekommen, auf der Terrasse des Hauses seines Jugendfreundes Niclas wird er erst von einem Sklaven als Bettler beschimpft. Nachdem er aber den Sklaven überzeugen konnte, seine Ankunft bei Nicias zu melden, sinnt er allein gelassen über die »schreckliche« Stadt nach. Alles Schreckliche, was der Text über die Stadt sagt, wird durch die sinnliche Musik konterkariert. Nicias erscheint mit Crobyle und Myrtale, zwei Sklavinnen aus seinem Haushalt, und nachdem er von Athanaëls Absicht gehört hat, dass er besagte Thaïs für eine Woche als Gesellschafterin gebucht hat. Heute ist der letzte Tag und sie ist schon auf dem Weg vom Theater zu seinem Haus. 2. Akt, Erstes Bild: Thais steht in ihrem Haus vor dem Spiegel und wird sich der Vergänglichkeit bewusst. Athanaël tritt ein, sie warnt ihn davor, sich in sie zu verlieben. Er verspricht, ihr eine Liebe entgegenzubringen, die sie noch nicht kennt. Sie aber glaubt, schon alles zu kennen. Er gibt sich als Mönch zu erkennen. Die Stimme des Nicias ruft aus der Ferne und erinnert sie an ihre Vergangenheit. Athanaël will vor ihrem Haus auf ihre Bekehrung warten. Sie bricht zusammen. Zwischenspiel: Méditation; ihre Bekehrung. 2. Akt, Zweites Bild: Thaïs tritt vor ihr Haus und bekennt, dass sie durch die Gebete nunmehr das Licht geschaut hat. Athanaël will sie zu zu Mutter Albine bringen, aber zuerst soll sie sich von allen irdischen Gütern trennen und sogar ihr Haus niederbrennen. Sie will nur die Eros-Statue behalten, doch Athanaël ist unerbittlich. Nicias und seine Freunde uns Freundinnen kommen und feiern ein Fest im Freien – das übliche Ballett einer Grand Opéra. Dritter Akt, Erstes Bild: Thaïs wird von Athanaël durch die Wüste getrieben, sie sind schon nah am Kloster der Albine. Thaïs möchte rasten. Erst als Athanaël das Blut an ihren Füßen sieht, hat er Mitleid und holt von der nahen Oase Wasser. Thaïs preist Athanaël und wird von Albine aufgenommen und nimmt Abschied von Athanaël »für immer«. Jetzt dämmert ihm, dass er sch in sie verliebt hat. 3. Akt, Zweites Bild: Seit seiner Rückkehr in die klösterliche Gemeinschaft vor 20 tagen hat Athanaël gefastet. Auch die permanenten Selbstgeißelungen bringen ihm keinen Frieden. Immer wieder sieht er Thaïs – und zwar so, wie sie vor der Bekehrung war. Stimmen künden vom unmittelbar bevorstehenden Tod der Thaïs. Athanaël läuft in den Sturm hinaus. 3. Akt, Drittes Bild: Albine und die Schwester beten für die sterbende Thaïs. Sie nehmen Athanaël gnädig auf und ziehen sich zurück. Im Schlussduett kehrt sich alles um; Thaïs stirbt geläutert und heiter, Athanaël bleibt in Verzweiflung zurück.
Soweit Thaïs von Jules Massenet. Als konzertante Aufführung vorgesehen am 8. und 12. April, nun aber vorerst abgesagt wie alle Vorstellungen im großen Haus bis 19. April. Wir werden uns morgen trotzdem dieser Oper widmen – man kann sie ja noch bei Youtube sehen oder auf CD hören.

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