Sonntag, 8. März 2020

Thaïs – der Roman

Roswitha von Gandersheim (heute meist Hrosvit geschrieben) hat in dem Schuldrama Paphnutius am Ende des 10. Jahrhunderts die Heiligenlegende von Thais (im Deutschen braucht es die Trema-Punkte nicht) erstmals dramatisiert. Auch besagter Paphnutius von Ägypten, der um 360 starb, wurde kanonisiert. Zur Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich wurde ihm ein Auge ausgestochen und ein Kniekehle durchtrennt. Er nahm am berühmten Konzil von Nikäa teil und kämpfte dort gegen den Zölibat. Für die koptische Kirche offenbar mit Erfolg, nicht jedoch für die römisch-katholische. Kein Wunder, dass die Existenz des Paphnutius und sein Auftreten auf dem Konzil von den Verfechtern des Zölibates auch angezweifelt wird. Das Leben der Thais wird in verschiedenen Hagiographien der Antike beschrieben. Ob sie tatsächlich gelebt hat, ist kaum nachzuweisen, auch wenn 1901 ein französischer Ägyptologe ihre Mumie präsentierte. Er musste später zugeben, dass es auch die Mumie einer anderen Person gewesen sein könnte. Nach den Quelle war Thais eine unglaublich schöne Kurtisane im antiken Alexandria in Ägypten. Nach ihrer Konversion zum Christentum lebte sie drei Jahre als Einsiedlerin um zu büßen. Danach zog sie zu den Nonnen in der thermischen Wüste, wo sie nach nur zwei Wochen starb. Mit ihrer Bekehrung werden drei Mönche in Verbindung gebracht. Der schon erwähnte Paphnutius, Bischof der Oberen Thebais, Bessarion, ein Schüler des Antonius in der ägyptischen Wüste, und schließlich Serapion der Bischof im Nildelta. Dass die Heilige in Alexandria wohnte und den Namen Thais trug, könnte ein Hinweis darauf sein, dass ihre Geschichte ausgedacht ist. Thais (»die zu Isis Gehörige«) hieß auch die berühmte Gefährtin Alexander des Großen, des Gründers der Stadt.
Anatole France veröffentlichte in der Revue des Deux Mondes im Juli und August 1889 in Fortsetzungen Thaïs, conte philosophique. Der Untertitel »philosophische Erzählung« entfiel leider bei der Buchausgabe 1890. Dennoch ist in die Geschichte der Heiligen eine Gegenüberstellung verschiedener philosophischer Richtungen des 4. Jahrhunderts als wesentlicher Bestandteil eingewoben. Die Haltung des Autors ist klar: keine der philosophischen Richtungen und keine der Religionen ist im Besitz der absoluten Wahrheit. Alle werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Gipfel der Ironie Frances ist, dass der Mönch der sich aus der Wüste aufgemacht hat, die »Buhlerin« aus dem Sündenpfuhl zu retten, verliebt sich in sie und bleibt nach ihrem Tod in Verzweiflung zurück. Die katholische Kirche tobte ob soviel Blasphemie. Auch gegen die Oper wurde natürlich agitiert – und der Erfolg ließ auf sich warten. Erst die Aufführung 1907 an der Metropolitan Opera mit Mary Garden in der Hauptpartie brachte den internationalen Durchbruch. 1917 produzierte Samuel Goldwyn einen Stummfilm nach dem Roman mit Mary Garden in der Hauptrolle. Der amerikanische Film Thais ist nicht zu verwechseln mit dem im gleichen Jahr erschienenen italienischen Film mit dem gleichen Titel, der aber nichts mit Thais von Alexandria zu tun hat.
Wieviel von der Ironie und vom Skeptizismus des Romans von Anatole France in der Oper zu finden sind, untersuchen wir in unserem Kurs am Mittwoch. Die Meinungen der Experten gehen da weit auseinander.

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