Montag, 22. Januar 2018

Die Gezeichneten

Gestern bereits war die Premiere an der Komischen Oper Berlin, bis Ende Februar laufen noch einige Vorstellungen, dann noch eine einzelne im Juli. Also schnellstens hier etwas zu diesem bedeutenden Werk des frühen 20. Jahrhunderts. Eine der Vorlagen habe ich schon in der Übersicht erwähnt. Eine, die ich besonders mag, weil sie mit Lenzburg und Maggi zu tun hat: Hidalla oder Sein und Haben von Frank Wedekind, hauptsächlich 1902/1903 auf der Lenzburg geschrieben und 1905 in München uraufgeführt. Bei der Kritik kein großer Erfolg und auch kein Skandal, eines der wenigen Werke Wedekinds, die nie von Zensurbehörden verfolgt wurden, obwohl ganz zynisch über Zensur darin geredet wird. Dennoch war es bis 1933 das am häufigsten gespielte Werk von Wedekind. Das ist kein Wunder, denn die, für die er berühmt war, Frühlings Erwachen, Erdgeist und Die Büchse der Pandora waren ja lange Zeit verboten. Später änderte der Autor den Titel und nannte es nach der Hauptfigur Karl Hetmann der Zwerg-Riese. Die »Tragödie des hässlichen Mannes« ist allerdings ein größeres Thema. Und die Parallelen zwischen Wedekind und Schreker halten sich auch in Grenzen. Mit der Romantik vollzog sich die Emanzipation des Hässlichen. Victor Hugo stand an der Spitze und wir denken gleich an den Glöckner in Notre-Dame, an Triboulet in Le roi s'amuse, die Vorlage zu Verdis Oper Rigoletto. Schon vor dem Wendepunkt der Bühnenkunst mit Hernani von Hugo in Paris 1830 (in dem es keine körperliche Hässlichkeit, nur seelische Verkommenheit gibt) schrieb der Wiener Dichter Matthäus von Collin (1779–1824) das Gedicht Der Zwerg. Berühmter als das Gedicht selbst, ist die Vertonung von Franz Schubert.
1891 veröffentlichte Oscar Wilde das Märchen Der Geburtstag der Infantin. Opernfans kennen das Sujet durch die Vertonung von Alexander von Zemlinsky, die ebenfalls den Titel Der Zwerg trägt (wenn nicht die Theaterleitung, wie damals in Hamburg um 1980, entscheidet, den Titel von Wilde zu  verwenden. Es ist aber auch ein Bühnenwerk mit dem Titel von Wilde, das uns in diesem Zusammenhang interessiert. Im Rahmen einer von Gustav Klimt organisierten großen Kunstschau (mit improvisiertem Sommertheater) wurde 1908 eine Tanzpantomime aufgeführt, zu der der junge noch weitgehend unbekannte Komponist Franz Schreker die Musik schrieb. Etwa um diese Zeit sah Schreker auch das Schauspiel von Wedekind. Kurz danach war Alexander von Zemlinsky auf der Suche nach einem Libretto. Er kannte die musikalisch-literarische Doppelbegabung Schrekers und erst in Verhandlungen mit ihm. Sie einigten sich auf das Sujet »Tragödie des hässlichen Mannes« und Schreker fing an zu schreiben. Doch während des Schreibens identifizierte er sich immer mehr mit dem Stoff und bat schließlich Zemlinsky, das fertige Libretto selbst vertonen zu dürfen. Zemlinsky scheint nicht lang darum gekämpft zu haben, wählte dann einiger Jahre später aber mit dem erwähnten Zwerg einen Stoff, den Schreker, wie wir gesehen haben, auch schon bearbeitet hatte.
Nun doch ein paar Worte zu Hetmann der Zwerg-Riese. Dieses Schauspiel nimmt zeitgenössische Diskussionen aufs Korn und spielt auch in der Gegenwart. Nach der Uraufführung in München inszenierte es Wedekind 1912 auch in Berlin und 1922 gab es hier eine eine neue Produktion von Karlheinz Martin. 1930 wurde es in Dresden gespielt, Regisseur war Josef Gielen, der Vater von Michael Gielen.

Die Handlug: Hermann hat den „Verein zur Erziehung von Rassemenschen“ gegründet, in den nur Menschen von besonderer Schönheit auf Vorschlag des jeweiligen Großmeisters aufgenommen werden. Bürgerliche Gesetze zu Ehe und Familie gelten für die Mitglieder nicht. Verweigerung der Reproduktionstätigkeit wird mit Ausschluss geahndet. Der Spekulant Launhart vermarktet die Ideen Hetmanns, Gellinghausen ist sein Geldgeber. Dieser ist gerade dabei, seine Braut Fanny zu verlassen, weil sie vor ihm schon eine andere Beziehung hatte. Fanny schließt sich Hetmanns Ideen an. Der will allerdings wegen seiner Hässlichkeit keine Beziehung. Launhart hat eine unattraktive Schwester, die auch um Hetmann schwirrt. Der lehnt kann aber mit der überzeugten Feministin nichts anfangen. Ein Artikel Hetmanns über ein sexuelles Thema, anonym von Launahrt veröffentlicht, wird von der Zensur verfolgt, Launhart flieht und verpfeift Hetmann, der verhaftet wird. Der Skandal beflügelt die Geschäfte Launharts im Exil. Hetmann büsst seine Gefängnisstrafe ab und verfasst eine Schrift „Hidalla oder die Moral der Schönste“ – daher kommt der ursprüngliche Titel des Schauspiels. Es wird sogar eine Doktorarbeit über seine Lehre geschrieben, aber Hetmann hält sich für gescheitert und plant seinen eigenen Märtyrertod, um seine Lehre durchzusetzen. Er versucht in Vorträgen das Publikum zu provozieren. Doch das  führt nur dazu, dass er für verrückt erklärt und in eine Anstalt gebracht wird. Der Großmeister des Vereins, Brühl, hat inzwischen Berta geheiratet und erlangt eine Professur mit seiner Studie über Hetmann. Der Zirkusdirektor Conelly will Hetmann als „Dummen August“ engagieren, doch der erhängt sich, was dazu führt, dass sich seine Ideen endgültig durchsetzen.

Auch bei Franz Schreker ist der körperlich Hässliche die Hauptfigur. Seine Geschichte aber spielt im Mittelalter und in Italien, genauer in der Hafenstadt und Adelsrepublik Genua. Alviano Salvago, missgestalteter, aber reicher Edelmann, hat eine künstliche Insel aufschichten lassen mit einem »Elysium«, einen utopischen Ort der Schönheit. Er selbst hat die Insel nie betreten. Seine Freunde missbrauchen dort eine geheime Grotte für ihre Spielchen. Sie entführen Bürgermädchen, schänden sie dort und lassen sie verschwinden. Es gibt Gerüchte, aber Genaues weiß man nicht. Deswegen hat Alviano, und das ist der Ausgangspunkt der Oper, entschieden, die Insel dem Volk zu schenken und sie damit für alle zugänglich zu machen. Am Rande der Gespräche mit dem Podestà (dem Bürgermeister von Genua), der mit seiner Tochter Carlotta, einer Malerin, erschienen ist, macht Graf Tamare dieser den Hof. Sie scheint nicht sehr beeindruckt. Die Adligen erreichen, dass der Herzog gefragt werden muss, ehe die Schenkung wirksam wird. Martuccia, die Haushälterin Carlottas, versteckt widerwillig Ginevra Scotti, ein entführtes Bürgermädchen. Carlotta ist von Alviano fasziniert. Wie man nach und nach erfährt, hat auch sie eine körperliche Schwäche, sie ist herzkrank. Sie lädt Alviano in ihr Atelier ein, er soll ihr Modell sein für ein Bild, an dem noch die Augen fehlen. – Der Herzog bremst tatsächlich, was die Senatoren wütend macht. Tamare, mit dem Herzog gut befreundet, bittet diesen nicht nur um Hilfe, die Insel nicht öffentlich werden zu lassen, sonder auch bei seiner Werbung um die Tochter des Podestà. Im Gespräch verrät er, was dort mit den verschwundenen Bürgermädchen passiert. Der Herzog ist fassungslos, aber Tamare gelingt es, den Zorn auf Alviano zu lenken. Der Herzog droht aber auch ihm, Tamare; falls er Carlota etwa entführen sollte, wird er ihn nicht mehr schützen. – Carlotta gibt Alviano einen Einblick in ihre Kunst. Sie spricht über eine angebliche Freundin, die nur Hände von Toten malt. Und sie spricht von sich, dass sie nicht die Körper, sondern die Seele malt. Sie macht ihm eine Liebeserklärung, er kann es nicht fassen und ist »so unsagbar, so wahnsinnig glücklich«. Carlotta macht sich an das Bild. Er lässt ich malen. Als sie fertig ist, erleidet sie einen Schwächeanfall. Als er ihr zu Hilfe eilt, enthüllt sich das Bild: Totenhände. Martuccia kündigt den Herzog an. Carlota lässt ihn warten. – »Elysium« ist nun doch für das Volk freigegeben worden. Die Bürger tauchen in eine ihnen vollkommen fremde Welt ein. Najaden und Faune bevölkern die Insel. Ein Kind glaubt »Engel« zu sehen, die Mutter ist irritiert, der Vater bescheidet: »Das versteht ihr nicht, das ist Kunst.« Auch Alviano besucht nun zum ersten Mal die Insel. Doch die Schergen sind hinter ihm her, denn die Entführung der Ginevra Scotti wird nun ihm angelastet. Erst einmal zeigt er dem Podestà die Insel, der ist begeistert von der Schönheit. Beide suchen nach Carlotta. Diese eröffnet nun dem Herzog, dass ihr gestriges »Nein« zu Tamare ein Irrtum war, dass sie nach der Vollendung des Bildes von Alviano nicht mehr so angezogen sei wie vorher. Jetzt erklärt der Herzog, dass Tamare ihrer Liebe nicht würdig sei. Aber sie will nichts hören: »Nur die Nacht, diese Nacht lieb' ich und ihre Schatten.« Sie lässt sich von Tamare in die geheim Grotte entführen. Alviano, immer noch auf der Suche nach Carlota, wird vom Volk gefeiert. Als der Polizeichef ihn verhaften will, schützt ihn das Volk. Ginevra Scott taucht auf und nennt ihren Entführer, der natürlich leugnet. Alviano erkennt jetzt, dass Tamare Carlota entführt hat und zeigt den Weg in die geheime Grotte. Dort findet man Carlota besinnungslos und Tamare, der beteuert, dass sie ihn liebt und sich ihm hingegeben hat. Alviano ersticht seinen Nebenbuhler. Carlota erwacht noch einmal, aber sie liegt im Sterben. Ihre letzten Gedanken gelten Tamare. Alviano verliert den Verstand und taumelt durch die Menge, die ihm scheu Platz macht.
Schrekers Klangexperimente waren schon Teil seines ersten großen Erfolges, Der ferne Klang. Auch hier entlockt er dem Riesenorchester ganz eigene Wirkungen, insbesondere zur Darstellung des »Elysiums«. Im Vorspiel, das er als eigenständiges Orchesterwerk Vorspiel zu einem Drama schon vorab veröffentlichte, sind diese Klänge schon vorbereitet. In mehreren Orchesterzwischenspielen misst er das gesamte Klangspektrum aus. Aber besonders dicht ist der Satz der Gesangstimmen in den Ensembles, deren es viele gibt. Mit 33 Partien ist Die Gezeichneten eine der anspruchsvollsten Opern nicht nur für kleinere Häuser.

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