Dienstag, 19. April 2016

Jules Massenet Cendrillon

Das Märchen vom Aschenputtel kennt man im deutschen Sprachraum durch die Fassung der Brüder Grimm. Da ist der Schuh, durch den Aschenputtel als die rechte Braut für den König identifiziert wird, golden. Die bedeutendste Bearbeitung des Aschenputtel- (oder Aschenbrödel-)Stoffes stammt jedoch von Charles Perrault (1628–1703). Dort ist der Schuh aus Glas, wie schon der Titel verrät: Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre (Aschenputtel oder der kleine Pantoffel aus Glas, 1697). Allerdings wird das von manchen Märchenforschern angezweifelt; sie machen bei »verre« einen Hörfehler aus und meinen, es müsse »vair« heißen, was soviel wie »Eichhörnchenfell« bedeutet, ganz genau gesagt ist es das Fell des sibirischen Eichhörnchens. Die Anregung zu seinem Märchen bezog Perrault von einer italienischen Vorlage. In dem posthum erschienen Pentamerone von Giovanni Battista Basile steht das Märchen von der Cenerentola (oder Cennerentola) ganz am Anfang. In der mit einem Vorwort von Jacob Grimm versehenen deutschen Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert rückt die Aschenkatze (so wird sie wohl zur Unterscheidung von Grimms Märchen betitelt) etwas weiter nach hinten. Der Pantoffel, der nicht auf einer mit Pech bestrichenen Treppe kleben bleibt, sondern, den Lukretia (so heißt Aschenputtel  hier) unterwegs verliert, hat hier keine besondere Eigenschaft. Beiden Versionen, der von Basile wie der von Perrault fehlt der uns geläufige blutige Aspekt. Also kein »Rucke-di-guck, / Blut ist im Schuck.« Dafür enthalten die Versionen von Basile und Perrault mehr Elemente des Wunderbaren. In beiden tritt die Fee selbst auf und schickt nicht nur ihre Täubchen. Bei Perrault ist Aschenputtels Patin eine Fee, die einen Kürbis in eine Karosse und Eidechsen in Diener zu verwandeln vermag.
Interessant an der Fassung Basiles ist, dass Lukretia gar kein Unschuldsengel ist und sich in gewisser Weise seine Lage selbst eingebrockt hat. Ihre erste Stiefmutter ist zwar auch nicht gerade nett zu ihr, aber es wäre noch erträglich, wenn sie selbt nicht unzufrieden damit wäre, dass der Vater nicht die Hofmeisterin, ihre geliebte Erzieherin, geheiratet hat. Diese gibt ihr den Rat, die Stiefmutter umzubringen. Nach vollbrachter Tat und angemessener Trauerzeit vor der Heirat ist die neue Stiefmutter eine Woche nett und dann erst beginnt sie Lukretia zu schikanieren.
Das älteste bekannte Bühnenstück um Aschenputtel ist die einaktige opéra comique Cendrillon von Jean-Louis Laruette (1731–1792). Zuerst wurde sie am 20. Februar 1759 im Foire Saint-Germain aufgeführt. In die Comédie-Italienne kam sie am 14. Juli 1762 und zwei Jahre später revidierte der Komponist die Partitur noch einmal. Er sang darin übrigens selbst die Partie des Azor, des »prince charmant«. Danach dauert es eine ganze Weile, bis in der Opéra-Comique der Stoff erneut die Aufmerksamkeit auf sich zieht: am 22. Februar 1810 erscheint dort die dreiaktige opéra-féerie Cendrillon von Nicholas – oder Nicolò – Isouard (1773 oder 1775 – 1818) auf einen Text des Journalisten und Dramatikers Charles Guillaume Étienne (1778–1845). Isouards Werk nahm Bezug auf Zémire et Azor von André Ernest Modeste Grétry (1741–1813). Diese Opéra comique nach dem Märchen La belle et la bête (Die Schöne und das Biest) war am 7. November 1771 in Fontainebleau zur Urauffürhung gekommen, mit Jean-Louis Laruette in der Partie des Sander, und erfreute sich nach wie vor großer Beliebtheit.
Das erste Aschenputtel-Bühnenstück, das bis heute eine fast durchgehende Aufführungstradition hat, ist inzwischen fast 200 Jahre alt. Am 28. Januar 1817 wurde La Cenerentola ossia La bontà in trionfo von Gioachino Rossini (1792–1868) im Teatro Valle in Rom uraufgeführt. Der Librettist Jacopo Ferretti (1784–1852) hat dem Stoff allerdings die meisten märchenhaften Züge entzogen. Es gibt weder eine Fee noch einen Pantoffel, weder Täubchen noch eine Stiefmutter. Aber träumen dürfen Angelina (Aschenputtel) und ihr Vater immerhin in verschiedenen Szenen und Arien.
Es gibt unzählige Aschenputtel-Filme. Die International Movie Database spuck 200 Titel aus, wenn man »Cinderella« eingibt. Der französische Filmpionier Georges Méliès, der seit 1896 Film um Film drehte, widmete sich dem Stoff 1899 und 1912. 1912 spielte die 14jährige Louise Lagrange, die schon fünf Jahre zuvor in einem Cendrillon-Film aufgetreten war, Aschenputtel. Der berühmteste Aschenputtel-Film ist jedoch der Zeichentrickfilm von Walt Disney von 1951. 1957 schrieben Oscar Hammerstein II und Richard Rodgers ein Musical Cinderella, ihr einziges Musical für das Fernsehen. Julie Andrews spielte die Titelrolle. Jerry Lewis machte 1960 mit Cinderfalla eine Parodie darauf. Bei der Berlinale 2015 wurde Cinderella von Kenneth Branagh mit Cate Blanchett als Stiefmutter uraufgeführt – und das ist bestimmt nicht der letzte Aschenputtel-Film.
Jules Massenet (1842–1912) hatte 1894 zum ersten Mal mit dem Librettisten Henri Cain (1857–1937) zusammengearbeitet. Ihr erstes gemeinsames Werk stand ganz im Zeichen des aktuellen Naturalismus bzw. Verismo: der in London uraufgeführte Einakter La Navarraise ist so packend wie Tosca und so sozialkritisch wie Die Weber. Unmittelbar darauf widmeten sie sich Perraults Märchen Cendrillon und machten damit ein Kehrtwende ähnlich der Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss' etwas mehr als zehn Jahre später, als sie nach Elektra den Rosenkavalier schufen. Die Uraufführung der Cendrillon zog sich an der Opéra-Comique etwas hinaus und so kam das dritte gemeinsame Werk, Sapho (nach Daudets Roman um ein Pariser Malermodell, nicht etwa um die antike Dichterin von Lesbos) zwei Jahre eher heraus. Die Uraufführung Cendrillon  am 24. Mai 1899 war ein Riesenerfolg mit 60 Aufführungen in kürzester Zeit. Die Erstaufführungen in Brüssel, Genf und Mailand folgten noch im gleichen Jahr, bis 1912 folgten noch New Orleans, Kairo, Buenos Aires, Philadelphia, New York und Montreal. Nur in Deutschland dauerte es bis 1967 zur Erstaufführung (in Darmstadt). In Berlin ist Cendrillon bisher noch nie gespielt worden, es wird also höchste Zeit. In Frankreich hatte die Oper aber zeitweise die Bedeutung, die Hänsel und Gretel in Deutschland hat; sie ist die Weihnachtsoper schlechthin.
Cain und Massenet wollten die Oper mit einem gesprochenen Vorspiel beginnen (wie später Debussy Pelléas et Mélisande), in dem die Personen alle vorgestellt werden. Die Direktion der Opera-Comique setzte aber in den letzten Proben den Rotstift an, um nicht zu viel vorwegzunehmen.
Die vieraktige Dramaturgie folgt dem Märchen treu. Im ersten Akt sind wir »bei Madame de la Haltière« (das ist die Stiefmutter) und erleben den Aufbruch der dümmlichen Schwestern, den traurigen Vater Pandolfe und Lucette/Cendrillon, die – allein zurück geblieben – einschläft und von ihrer Patin, der Fee träumt, die dann tatsächlich in die Stube tritt und sie mit Hilfe ihrer Geister prächtig ausstattet u. a. mit gläsernen Pantoffeln, die sie für die eigene Verwandtschaft unsichtbar machen sollen. Der zweite Akt ist »beim König«. Der Empfang wird bereitet, Madame de la Haltière präsentiert mit Pandolfe die beiden Töchter Noémie und Dorothée, wobei sie von der unbekannten Schönen unterbrochen wird, in die sich der König alsobald verliebt. Im dritten Akt sind wir zurück wie im ersten, Cendrillon kommt atemlos zurück, sie hat es gerade geschafft, bevor die Turmglocke schlägt, aber sie hat einen Pantoffel verloren. Die Familie kommt zurück und gerät in Streit, die weinende Cendrillon rührt Pandolfe, der endlich Madame de la Haltière und ihre Töchter rausschmeißt. Cendrillon macht sich auf zur Eiche der Feen, wo sie sterben will. Dort (zweites Bild) werden der Prince charmant und Cendrillon zusammengeführt. Der letzte Akt hat wiederum zwei Bilder. Zuerst sind wir bei Cendrillon, die man ohnmächtig an einem Bach aufgefunden hat. Madame de la Haltière kehrt halbwegs reumütig mit ihren Töchtern zurück und glaubt schon, der Prinz habe wirklich eine ihrer Töchter erwählt, als ein Herold alle in den Palast ruft. Im letzten Bild löst sich alles auf. Sobald der Prinz Cendrillon erblickt, ist seine Melancholie weg. Es wird geheiratet und Madame de la Haltière erkennt Lucette als ihre Tochter an.
Eine Besonderheit ist die Besetzung des Prince charmant mit einem Sopran. In manchen Aufführungen wird das allerdings nicht befolgt, so auch in der bisher einzigen Aufnahme aus dem Schallplattenstudio, in der Nicolai Gedda als Prince Charmant an der Seite von Frederica von Stade als Cendrillon singt. In der DVD von Covent Garden hingegen wird der Prinz vorschriftsgemäß von einer Frau gesungen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.