Montag, 8. Februar 2016

Jewgeni Onegin – Eugen Onegin

Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799–1837) gilt als Begründer der russischen Literatur. Er begegnet uns immer wieder auf der Opernbühne. Drei der 15 Opern von Rimsky-Korsakow folgen einer Vorlage von Puschkin: Mozart und Salieri (1898), Das Märchen vom Zaren Saltan (1900), Der goldene Hahn (1907); drei der zehn Opern von Tschaikowski, Eugen Onegin (1878), Mazeppa (1883), Pique Dame (1890); eine der beiden Opern von Michail Glinka, Ruslan und Ljudmila (1842) sowie die unvollendete Oper von Dargomyschski, Der steinerne Gast; und schließlich ist auch die russische Nationaloper Boris Godunow von Mussorgski auf einen Text von Puschkin gegründet. Keines der anderen genannten Werke allerdings ist so direkt mit der Lebensgeschichte sowohl des Dichters als auch des Komponisten verwoben wie Eugen Onegin.
Im Zentrum des Werks steht ein Duell, ein Ehrenhandel. Duelle waren schon im 19. Jahrhundert auch in Russland verboten, trotzdem gab es sie. Und Puschkin selbst starb an den Folgen einer Schussverletzung, die ihm in einem Duell zugefügt worden war. Er hat in seinem Versroman gewissermaßen seinen eigenen Tod vorausgesehen. Ebenso nichtig und vermeidbar war der Händel den er mit dem Mann der Schwester seiner Frau hatte, wie der Händel zwischen den Freunden Lenski und Onegin. Gerüchte um eine angebliche Untreue ließen ihn einen beleidigenden Brief an den vermeintllichen Verführer schreiben, der mit einer Duellforderung antwortete. Allerdings blieb Puschkin nicht einfach auf dem Duellplatz liegen. Der Todeskampf dauerte zwei Tage. Das ist der typische Unterschied zwischen Wirklichkeit und Oper.
Lenski, der im Duell getötet wird, ist aber nicht die Hauptperson, es geht um die Titelfigur und seine Beziehung oder Nicht-Beziehung zu Tatjana. Und da ist es kein Wunder dass Tschaikowski sich von dem Versroman angezogen fühlte. Es ist von ihm überliefert, dass er ein Problem hatte mit Frauen. Er vermied jeden persönlichen Kontakt mit seiner Gönnerin Nadeschda von Meck (die später auch Claude Debussy förderte) und seine Ehe mit einer ihm vorher unbekannten Frau – heute würde man sager, einer Stalkerin – endete schon nach drei Wochen. Tschaikowski war mit ziemlicher Sicherheit homosexuell. Dass russische Musikwissenschaftler immer wieder und gerade jetzt das Gegenteil zu beweisen versuchen, könnte als Beweis dafür gelten. Homosexualität galt bestenfalls als Krankheit, von der man auch »geheilt« werden kann, Homosexuelle glaubten diesen Blödsinn im Zweifelsfall selbst. Vor allem aber hielten sie sich selbst für schuldig, wann immer sie ihren Neigungen nachgegeben hatten. Die Geschichte von Eugen Onegin kann man, oder muss man vielleicht sogar, als die Geschichte eines Homosexuellen lesen. Ein Thema für die Komische Oper, die dann auch zusammen mit Inforadio Berlin-Brandenburg nachfragte: Gibt es schwule Musik?
Das muss jetzt nicht unsere Frage sein, zumindest nicht unsere erste. Wir wollen zuerst wissen, was es mit der Bezeichnung »Lyrische Szenen« auf sich hat. Die Polonaise aus dem dritten Akt hören wir im Sonntagskonzert neben dem Krönungsmarsch aus Le Prophète, der Ballettmusik auf Les vêpres siciliennes und dem Brautchor aus Lohengrin. Wir rechnen sie ganz selbstverständlich der »Großen Oper« zu. Auch manche pompöse Inszenierung, nicht nur vom Bolschoi-Theater, zeigt vor allem prachtvolle Ausstattung. Darum aber ging es Tschaikowski gar nicht. Er schrieb das Werk überhaupt nicht für die große Bühne und für große Stimmen, sondern für Studenten des Moskauer Konservatoriums, die es auch 1879 zur Uraufführung brachten. Er wünschte sich junge, unverbrauchte Interpreten und eine lebendige Aufführung ohne die Staubschichten unter denen sich die Routine schlecht verbirgt.
»Lyrische Szenen« sind es auch, weil sich das Libretto, das Tschaikowski selbst mit Hilfe des befreundeten Schauspielers und Dichters Kontantin Stepanowitsch Schilowsky in enger Anlehnung an den Text Puschkins zusammenstellte, gar nicht um die berühmten Einheiten (der Zeit, des Ortes, der Handlung) kümmert. Die ersten beiden Akte spielen auf dem Land, der letzte in Moskau. Der erste Akt kann im Verlauf weniger Tage spielen, die beiden Bilder des zweiten Aktes trennt nur eine (kurze) Nacht; dagegen spielt der dritte Akt »Jahre später«. Diese Einheiten allerdings sind in der Oper auch nicht unbedingt gefordert, siehe Il trovatore oder – in St. Peterburg 1869 uraufgeführt – La forza del destino.
»Lyrische Szenen« sind es auch geworden, weil dem Komponisten in seinem Umkreis eine grundsätzlich Ablehnung dieses Sujets entgegenschlug. Manche seiner Freunde hielten den Stoff für nicht »dramatisch« genug. Tschsikowski verteidigte sich damit, dass er die Gefühle von echten Menschen beschreiben wolle und nicht die von Puppen, und dass er auf Effekte pfeife. Er kannte die Musik seiner Zeitgenossen sehr gut, er war ja auch Musikkritiker. Aber er konnte weder mit Aida noch mit Tristan und Isolde (die er allerdings erst später kennen lernte) etwas anfangen.
Der 37jährige Komponist hatte, als er mit der Arbeit am Eugen Onegin begann, bereits vier Opern komponiert, von denen zwei jedoch noch gar nicht zur Aufführung gelangt waren. Die beiden anderen waren zwar beim Publikum recht erfolgreich, aber Tschaikowski – wie immer – war nicht zufrieden. Mit Eugen Onegin fand er zu sich selbst. Richtig erfolgreich war er damit aber doch erst, als sich die großen Opernhäuser dafür zu interessieren begannen, erst das Moskauer Bolschoi-Theater, dann das Mariinski-Theater in St. Petersburg.
Das erste Bild, in dem wir die Hauptpersonen kennen lernen und in dem Chor der Landleute ein deutliches Bekenntnis zu Russland erfahren, ist eine Genreszene, die in der Tat eher lyrisch als dramatisch bestimmt ist. Konflikte, die kommen könnten, sind noch kaum erahnbar unter der Oberfläche einer Normalität unter Eingesessenen und Städtern auf dem Land. Das zweite Bild aber ist bereits eine große Herausforderung. Die »Briefszene«, dauert über zwanzig Minuten, in denen Tatjana fast ununterbrochen singt. Wir begleiten sie eine ganze Nacht, die Musik komprimiert die Zeit, in der sie sich dazu durchringt, ihre Liebe in einem Brief zu bekennen. In der dritten Szene brechen die Gegensätze auf. Ein Vorspiel, das harmonisch in entlegenste Regionen führt, wobei schon fast ein Zwölftonfeld aufgemacht wird, wird von einer Volksmusik zitierenden Oboe unterbrochen. Ein luftiger Mädchenchor steht zwischen dem Duett der Schwestern (Olga und Tatjana) und der fatalen Begegnung Tatjanas mit Onegin, der ihr den Brief verständlislos zurückgibt und in der Arie vor allem von sich slebst redet.
Die beiden Bilder des zweiten Akts sind am engsten aneinander geknüpft, bilden aber auch den größt möglichen Gegensatz. Zuerst sind wir auf dem großen Ball, auf dem es zu den Provokationen kommt, die dann das Duell auslösen. Dann kommen wir am nächsten Morgen auf dem Platz an, der für das Duell ausersehen ist. In Lenskis Arie scheint die Zeit mehrfach still zu stehen. Dann kommt es zu einem Duett unter den Freunden, die sich jetzt als Feinde gegenüber stehen. Als Verknüpfung zwischen den beiden hat sich Tschaikowski dabei einen Kanon ausgedacht. Die Sinnlosigkeit und die gleichzeitige Ausweglosigkeit könnten nicht präziser musikalisch ausgedrückt werden.
Der dritte Akt beginnt mit der berühmten Polonaise, die uns eindeutig in die Stadt führt. Auch die folgende Arie des aus dem Ausland zurückgekehrten Onegin wird noch von einem Tanz unterbrochen, der zur erneuten Begegnung mit Tatjana führt. Die Leidenschaften die aufbrechen werden von der folgenden berühmten Arie des Gremin komplett heruntergekühlt. Im zweiten Bild begegnen sich Tatjana und Onegin erneut. Die Leidenschaften brechen auf. Onegin singt jetzt das Briefmotiv der Tatjana aus dem ersten Akt. Das Ende ist kein Ende, weil es kein Ende sein kann. Es bleibt nur Verzweiflung.

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