Montag, 27. Januar 2014

Der feurige Engel

Der symbolistische Dichter Waleri Jakowlewitsch Brjussow gab von 1904 bis 1909 die Zeitschrift Wesi (russisch: Весы́, deutsch: Die Waage) heraus. Zunächst berichteten zahlreiche Korrespondenten und Kritiker aus den westlichen Ländern über zeitgenösische Kunst und Malerei. Doch ab 1906 entwickelte sich die Zeitschrift zum Zentralorgan der symbolistischen Bewegung. Es erschienen Prosa und Gedichte u. a. von Alexander Blok, Konstantin Balmont. Zwischen Januar 1907 und August 1908 veröffentlichte Brjussow in 17 Folgen unter dem Titel Der feurige Engel (russisch: Огненный ангел) einen Roman, der im Mittelalter in Deutschland spielt. Als Historiker und Übersetzer von Goethes Faust hatte sich Brjussow schon früher eingehend mit Alchimie und Nekromantik befasst. Und er kannte mit Sicherheit die Quellen Goethes, etwa das Volksbuch von Dr. Faust von 1580. Als er den Roman 1908 und 1909 in erweiterter Form als Buch herausgab, gab er ihm eine Titulatur, die nicht nur der des Volksbuches sehr ähnlich ist, sondern schon darauf vorbereitet, dass Faust als Nebenfigur auch vorkommen wird:

»Der feurige Engel oder eine wahrhaftige Erzählung, in welcher berichtet wird vom Teufel, der mehr denn einmal einer Jungfrau in Gestalt eines lichten Geistes erschien und sie zu mannigfachen sündhaften Handlungen verleitete, von der gottwidrigen Beschäftigung mit der Magie, der Astrologie, der Kabbalistik und Nekromantie, von der Verurteilung jener Jungfrau unter dem Vorsitze seiner Eminenz des Erzbischofs von Trier, gleicherweise von den Begegnungen und Gesprächen mit dem Ritter und dreifachen Doktor Agrippa von Nettesheim und mit dem Doktor Faust; verfaßt von einem Augenzeugen.«

Zum Vergleich die Titulatur vom Volksbuch:
»Historia vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj
/ des Zauberers / DarJnn gantz / Aigentlich vnd warhafftig be- / schriben wirt. sein gantzes Le- / ben vnnd Endt / wie er sich dem / Teuffel auff ein benante Zeit / verobligirt. was sich darunder / mit Jme verloffen / vnd wie er / auch endtlich darvff seinen ver- / dienten Lohn empfanngen: / Es seind auch seltzame Offenbahrungen dar- / Jnnen begriffen sich Zú spieglen so Zú Hoch- / nottwendiger Christlicher warnung vnd / Abmanen seer nútzlich vnd dienstlich ist / das sich vor der gleichen allerschedlichsten befleckh- / úngen wol Zú húetten / Die Leúth Zúúorderst dess verZweifelten Ableibens sich genntz- / lichen Zúenthalten vrsach haben sollen.«

Es ist in dem Roman von einem Amerika-Rückkehrer im Jahr 1534 die Rede, Ruprecht, der in einer Herberge auf eine junge Frau trifft, Renata, die an einer Art Besessenheit leidet. Sie erzählt von einer Jugendliebe zu einem Engel namens Madiel, der sie verließ, als sie ihn zu verführen versuchte. In dem Grafen Heinrich glaubte sie ihn wiederzuerkennen, sie zog zu ihm auf sein Schloss, doch nach zwei Jahren verschwand er spurlos. Ruprecht verliebt sich augenblicklich in Renata und zusammen machen sie sich auf nach Köln, wo sie mit Mitteln der Magie Heinrich aufzuspüren versuchen. Ruprecht besucht in Bonn Agrippa von Nettesheim und als er nach Köln zurückkehrt, offenbart ihm Renata, dass sie Heinrich in der Stadt gesehen habe und fordert ihn auf, diesen zum Duell zu fordern und zu töten. Bevor das Duell stattfindet, bittet sie ihn jedoch, Heinrich nicht zu verletzen. So wird Ruprecht schwer verwundet und sie pflegt ihn gesund. Erneut erleidet Renata Anfälle von Besessenheit, in denen ihr Madiel wieder erscheint und sie auffordert, das Leben einer Heiligen zu führen. Sie verlässt Ruprecht, der nun die Bekanntschaft Fausts und seines Schülers Mülin (Mephistopheles) macht. Beim Grafen von Wellen beschwören sie mit Hilfe der Nekromantie Helena. Der Erzbischof von Trier berichtet davon, dass in einem nahegelegenen Kloster ein Fall von Ketzerei aufgetreten sei. Ruprecht begibt sich mit dem Grafen dorthin und muss erkennen, dass es sich um Renata handelt, die die anderen Nonnen mit ihrer Besessenheit angesteckt hat. Renata wird dem Inquisitor ausgeliefert und gefoltert. Mit Hilfe des Grafen findet Ruprecht den Weg in den Kerker, wo er auf die sterbende Renata trifft.

1918 hatte Sergei Prokofjew Russland verlassen – wie die meisten symbolistischen Dichter, außer Brjussow, der blieb und später in der Sowjetunion bis zu seinem frühen Tod 1924 sogar in der Kulturpolitik tätig war. 1919 begann er mit der Komposition einer Oper nach dem Roman Der feurige Engel, für die er jedoch keinen Auftrag hatte. Parallel arbeitete er an Die Spieler nach Dostojewski und an Die Liebe zu den drei Orangen. 1924 war die Komposition weitgehend abgeschlossen, aber eine Aufführungsmöglichkeit war nicht in Sicht. Bruno Walter, seit 1925 Generalmusikdirektor der Städtischen Oper Berlin machte Prokofjew 1926 ein Angebot, der sich sofort an den Feinschliff machte und 1927, als er zum ersten Mal in die Sowjetunion reiste und seine Rückkehr in die Heimat vorbereitete, eine Partitur vorlegen konnte. Aber die Aufführungsmöglichkeit in Berlin zerschlug sich wieder. Und erst recht nicht in der Sowjetunion, wohin Prokofjew 1936 endgültig gezogen war, kam eine Aufführung gar nciht in Frage. Dort galt der Stoff inzwischen als dekadent. So kam es erst nach dem Tod Prokofjews (er starb am gleichen Tag wie Stalin, am 5. März 1953) zur konzertanten Erstaufführung in Paris und kurz danach zur szenischen Erstaufführung in Venedig, wo Giorgio Strehler Regie führte.
Bis heute gehört Der feurige Engel trotz des opulenten, opernhaften Stoffes zu den eher selten aufgeführten Werken. Wenn sie aufgeführt wird, ist es jedoch immer irgendwie spektakulär – genauso wie bei den beiden anderen Opern, die nach Romanen geschrieben wurden, die in einer bemerkenswerten Traditionslienie zu Brjussows Werk stehen: Die Teufel von Loudun von Krzysztof Penderecki (nach dem Roman von Aldous Huxley, 1952) und Der Meister und Margarita von York Höller (nach dem Roman von Michail Bulgakow, geschrieben 1928–40, publiziert 1960, eine frühere Komposition als Kammeroper stammt von Sergei Slonimsky).

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