Montag, 9. September 2013

Nabucco

Die Kurzfassung der Geschichte um das Libretto von Temistocle Solera Nabucodonosor und seine Vertonung durch Giuseppe Verdi geht so: Der berühmte deutsche Komponist Otto Nicolai, der gerade große Erfolge in Italien feierte mit Il templario – eine Walter-Scott-Oper nach dem Roman Ivanhoe –, bekam vom Impresario Bartolomeo Merelli zwei Libretti vorgelegt, Il proscritto von Gaetano Rossi und Nabucodonosor von Solera. Nicolai entschied sich für den Text von Rossi, weil ihm der andere zu blutrünstig war und deshalb bekam Verdi dan Nabucodonosor zur Vertonung. Das lässt sich mit Briefen der beiden Komponisten belegen. In Wahrheit verhielt es sich vermutlich noch komplizierter, denn Gaetano Rossi hatte Il proscritto ausdrücklich für Verdi geschrieben. Der machte aber keine Anstalten, mit der Komposition anzufangen – er war niedergeschlagen, nachdem innerhalb von knapp drei Jahren seine beiden Kinder und seine erste Frau starben, während er seine ersten beiden Opern komponierte. Die erste, Oberto, war ein achtbarer Erfolg, aber die zweite, Un giorno di regno, ausgerechnet eine komische Oper, war ein Desaster. Später sagte Verdi, er habe nie wieder eine Oper komponieren wollen und das Libretto von Solera, das er ja, wie wir wissen, nur bekommen hat, weil Nicolai es nicht haben wollte und im Gegenzug seines bekommen hatte, in die Ecke geworfen. Dabei sei die Seite mit dem Gefangenenchor, eine Paraphrase des Psalms 137, aufgeschlagen und er sei sofort davon fasziniert gewesen. Das allerdings gehört zur Legende, die von Verdi initiiert und von anderen verbreitet wurde.
Ein sehr lesenswerter Artikel von dem renommierten Verdi-Forscher Anselm Gerhard im Programmheft der Deutschen Oper Berlin, geht auf die Legende um den Gefangenenchor genauer ein, wir können das hier abkürzen. Nur soviel: Verdi wollte keine Note mehr komponieren? Etwas anderes blieb ihm doch gar nicht übrig, das war sein Beruf und er hatte einen Vertrag mit Merelli. Er musste komponieren, sowohl um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, als auch um nicht vertragsbrüchig zu werden.
Die Legenden um Nabucodonosor (das ist die italienische Form von Nebukadnezar und so ist der Titel sowohl des Librettos als auch der Oper, Nabucco ist eine Abkürzung, die sich im Laufe der jahre eingebürgert hat) können getrost demontiert werden und es ist auch wichtig, dass dies geschieht. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Verdi hier aus dem Stand heraus ein Werk schuf, das schon ganz seine persönliche Handschrift trägt (das kann man von Oberto und Un giorno di regno nicht so ohne weiteres behaupten), genauso wie Richard Wagner in seinem fast gleichzeitig entstandenen Fliegenden Holländer.
Es lohnt sich, ein wenig die feinen Linien nachzuzeichnen, die sich von der Partitur zu den späteren Meisterwerken Verdis ziehen und die auf der anderen Seite auch in die Tradition der italienischen Oper eingebunden sind, also auch auf Vorbilder verweisen.
Das erste große Vorbild Verdis ist kein Komponist seiner Gegenwart, also Donizetti, Bellini, Mercadante oder eben Nicolai, sondern einer der sich vom Geschäft bereits zurückgezogen hat, Rossini. Für Nabucco bedeutet das konkret, dass es sich lohnt, Vergleiche mit seiner großen biblischen Oper, Mosè in Egitto, anzustellen und Analogien wie auch Unterschiede herauszuarbeiten. Schon bei Rossini spielte das Orchester eine größere Rolle, eine so große sogar, dass der Schluss – der Durchzug durch das rote Meer ist ein reines Orchesterstück (erst in der französischen Fassung kommt danach noch ein Finalensemble). Für ein solches instrumentales Finale gibt es im Nabucco keine Veranlassung, dennoch ist der Einfluss Rossinis nicht zu verkennen. Geradezu ein Zitat Rossinis ist die Einleitung zur Bassarie »Vieni o levita – Tu sul labbro« im 2. Akt mit einem Cellosextett. Das Vorbild ist die Einleitung der Ouvertüre zu Guillaume Tell, ein Celloquintett mit geteilten Kontrabässen (also quasi ein Septett). Die siebente Stimme ist bei Verdi die Singstimme. Eine feine Linie von hier führt zu Otello. Dort ist es ein Celloquartett, also ein nur vierstimmiger Satz, der die Überleitung von Desdemonas Auftritt im ersten Akt zum Liebesduett bildet, das kann man als eine für das Spätwerk typische Reduktion begreifen.
Eine weitere Übereinstimmung mit Guillaume Tell ist die Verwendung des »falso canone«, eines Kanons in einem Ensemblestück. Bei Rossini ist das ein Frauen-Terzett im 4. Akt. Mathilde, Hedwige und Jemmy warten bang, was mit Tell passiert, der auf dem Schiff als Gefangener abegführt wurde, nachdem er den Apfel getroffen hatte. Ein typisches Verzögerungsmoment imt größeren Zusammenhang. In früheren Aufführungen des Guillaume Tell wurde das Terzett oft stark gekürzt, so dass man die Struktur eines Kanons gar nicht erkennen konnte, oder es wurde gar ganz weggelassen. Ähnlich wurde und wird auch immer noch mit einem ebenfalls als Kanon konzipierten Terzett in Bellinis Norma verfahren. Der Kanon in Nabucodonosor gehört zum Finale des zweiten Teils und ist hier der typische langsame Teil, bei dem die vordergründige Handlung stillzustehen scheint, während die emotionale Beteiligung der dargestellten Personen ins Unermessliche steigt. Auch dieser Kanon ist keine Erfindung von Verdi, aber er stellt so etwas wie eine Initialzündung dar, die das künftige Werk beeinflusst. Immer wieder treffen wir auf kontrapunktische Formen wie Kanon und Fuge, selbstverständlich im Streichquartett, das stark von Beethoven beeinflusst ist, und in den geistlichen Werken. Aber auch in Macbeth kommt eine Fuge vor, auf dem Schlachtfeld, und neben der Prügelfuge ist die berühmteste Opernfuge wohl die Schlussfuge im Falstaff, auf den wir vielleicht später noch kommen.
Und zum Schluss noch eine Parallele zu Rigoletto. Im zweiten Teil der großen Arie des Rigoletto im zweiten Akt, wo er von der Wut ins Jammern und schließlich ins Flehen gerät, stehen ihm zwei Soloinstrumente aus dem Orchester zur Seite, das Englischhorn und das Violoncello. Genau diese Kombination hören wir in der »Aria finale« der Abigaille. Auch das Englischhorn ist nicht neu bei Verdi, es ist sogar fast so etwas wie ein Modeinstrument bei Bellini, Donizetti und – Wagner. Romantische Orchestermusik ist gar nicht denkbar ohne das Englischhorn, und doch ist es bei Verdi etwas ganz Besonderes, dem wir am Mittwoch beim Hören vielleicht auf die Spur kommen.

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