Montag, 21. Januar 2013

Peter Grimes zum Zweiten

Die ungewöhnliche Passacaglia (genau gesagt verwendet Britten die französische Bezeichnung, Passecaille) die als »Interlude IV« genau im Zentrum des Werks steht, haben wir uns schon am letzten Mittwoch angehört. Wir haben Vergleiche gezogen zur Urform der barocken Passacaglia, wie sie bei Purcell, dem großen Vorbild Brittens, vorkommt und auch wie sie in Lady Macbeth von Mzensk von Dmitri Schostakowitsch steht. Anzufügen wäre vielleicht noch, dass auch Alban Berg in Wozzeck eine Passacaglia verwendet. Es ist dort die vierte Szene des 1. Aktes, Wozzeck beim Doktor. Normalerweise steht die Passacaglia im (langsamen) Dreivierteltakt. Britten jedoch verwendet den Viervierteltakt für seine vorweggenommene Trauermusik für den abgestürzten Jungen. Um eine solche handelt es sich zweifellos, die klagende Bratsche, die die erste Variation eröffnet legt das nahe. Die Bratsche ist nicht nur Brittens Nebeninstrument, das er stets mit bedonderer Liebe in seinen Partituren behandelte, einige Jahre zuvor hatte Paul Hindemith bei einem Konzertbesuch in London spontan für dieses Instrument eine »Trauermusik« für den verstorbenen König George V geschrieben, die er sogleich live im BBC spielte – ein Konzert, das Brittens Aufmerksamkeit kaum entgangen sein dürfte. Der Viervierteltakt Brittens ist jedoch mit der sich ständig wiederholenden Bassfigur so srtukturiert, dass man auch einen Dreivierteltakt dahinter vermuten könnte; einen Dreivierteltakt, dem gelegentlich zum Ausgleich noch ein Viertel hinzugefügt werden muss. Auchhierzu wäre noch anzufügen, dass das Thema selbst die Variante eines Aufschreis Peters aus der vorangehenden Szene ist.
Peter Grimes ist eine Ensemble- und Choroper, aus der sich drei Hauptfiguren und eine Unzahl an Nebenfiguren herausschälen. Hauptfiguren sind außer dem titelgebenden Peter Grimes Ellen Orford un Captain Balstrode. Ellen und Balstrode sind die einzigen, die Peter nicht grundsätzlich feindlich gegenübertreten. Beide sind zwar nicht ebensolche Außenseiter wie Peter, aber sie setzen sich doch von der Gesellschaft ab. Ellen ist als Witwe und Lehrerin einerseits isoliert, genießt aber andererseits den Vorzug, alles von einem neutralen, unvoreingenommenen Standpunkt betrachten zu können, wie sie es als Pädagogin gelernt hat. Balstrode ist als Rentner außerhalb des Tagesgeschäfts und hat als Kapitän mehr als nur Fischerboote gesehen. Beide werden aber am Ende schwach und erweisen sich für Peter als Verräter. In dem Augenblick, wo sie kämpfen müssten für ihn und gegen den Mob, verlässt sie der Mut und sie geben sich geschlagen. Diese Entwicklung von der Auflehnung bis zur Resignation ist besonders sinnfällig nachzuvollziehen in den drei Arien, die Ellen Orford hat. In jedem Akt gibt es einen Punkt, wo sie, ganz dem klassischen Opernschema folgend, in einer lyrisch-kontemplativen Szene ihre unausgesprochenen Gedanken und Gefühle formuliert. Im ersten Akt ist sie kämpferisch und bringt das biblische Argument vom ersten Stein in die Debatte. Im zweiten ist sie bereits in der Defensive, was auch dadurch greifbar wird, dass sie von den Bürgern unterbrochen wird. Im letzten Akt ist sie vollends auf dem Rückzug. So sehr, dass manche Kritiker Brittens schon vermuteten, der Komponist habe die Arie überhaupt nur geschrieben, damit Joan Cross auch im letzten Akt ihr Solo habe, vergleichbar dem »Summertime« der Clara in Gershwins Porgy and Bess. Der Vergleich ist nicht weit hergeholt, Britten wird Porgy and Bess schon gekannt haben, im Januar 1942 gab es am Broadway ein Revival, das bis September lief.
Von Kakophonie war die Rede im Ensemble des Sadler's Wells Theatre. Aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, ist es jedoch verständlich, wenn man die zeitgenössische britische Musikproduktion danebenstellt. Da ist Bitonalität schon eine ungeheure Kühnheit. Und Bitonalität findet man häufig. schon im ersten Duett zwischen Peter und Ellen. Er singt in f-Moll, sie in E-Dur. Ein bemerkenswertes Duett, das sich auch dadurch heraushebt, dass es über weite Teile unbegleitet ist. Und beide singen zwar zusammen, aber sie verstehen sich doch nicht, auch wenn es den Anschein macht.
Alle Szenen ähneln sich in ihrer Grundkonzeption. Peter gegen »The Borough« (was mit »Die Kleinstadt« nur unvollkommen übersetzt ist, da damit sowohl die Ansammlung von Häusern als auch ihre Bewohner gemeint sind). Eine anfängliche Anschuldigung, ein anfänglicher Verdacht bauschen sich auf und am Ende bricht der Konflikt offen aus. Eine besondere Stellung hat das erste Bild des zweiten Aktes. Hier läuft parallel zur Handlung ein Gottesdienst. Die Glocken strukturieren die Szene, man hört auch musikalische Fetzen aus der Kirche. Nichts grundsätzlich Neues in der Oper, es gibt Vergleichbares in Cavalleria rusticana oder in Tiefland. Und es gibt strukturell Vergleichbares bei Verdi zuhauf: das Duett Rigoletto-Sparafucile etwa, oder auch der Beginn des Duetts Großinquisitor-Philipp.
Zum Schluss: der Anfang. Eine groteske Gerichtsverhandlung, der man sogleich anmerkt, dass etwas nicht stimmt.

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