Karl Marx schrieb 1844 in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.« An der Stelle spricht er auch von der Religion als »Opium des Volkes«, was Lenin später aufgriff, um den Atheismus zur Staatsdoktrin zu erheben. Keiner der beiden konnte erahnen, dass 150 Jahre später Die toten Hosen ein Konzeptalbum veröffentlichen würden, in dem Opium fürs Volk durchaus positiv angeboten werden könnte. Die Rituale, die von den Kirchen zur Selbstfindung in der Gemeinschaft betrieben werden, waren schon im 19. Jahrhundert für viele inhaltsleer geworden. Richard Wagner sah hier eine Lücke, die durch die Kunst ausgefüllt werden könnte. Denn die Rituale sind »künstlich« und können deshalb weit besser von Künstlern gestaltet und weiter entwickelt werden, als von Priestern. Davon u. a. spricht seine letzte große theoretische Schrift 1880, Religion und Kunst. Da hatte er schon einen großen Teil der Arbeit an seinem Parsifal abgeschlossen. Ist Parsifal demzufolge ein Kunstwerk, das die Stelle einer Religion einnimmt? Man könnte es glauben und es ist auf der einen Seite auch richtig, auf der anderen aber auch nicht. Der Mythos, der um Parsifal aufgebaut wurde – nicht unbedingt von Wagner, sondern viel mehr von seiner Erbin, Cosima –, bereitet tatsächlich den Weg dahin. Die Verfügung, dass das Werk ausschließlich in Bayreuth gespielt werden dürfe, war dafür nicht entscheidend, aber hilfreich. Solange dies mit Hilfe der damaligen Copyright-Gesetze durchgesetzt werden konnte (30 Jahre über den Tod des Autors hinaus), hatten vereinzelte – »illegale« – Aufführungen zusätzlich ein Element des Konspirativen. Bis heute ist es ein Werk geblieben, das mit christlichen Feierlichkeiten in Zusammenhang gebracht wird. Es wird häufig in der Passions- und Osterzeit gezeigt, oft auch am Karfreitag, wo in manchen Ländern andere Theateraufführungen verboten wären. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass es sich um ein geistliches Werk handeln könnte, ist darin zu finden, dass sich sehr lange die Sitte hielt, nicht zu applaudieren. Da es inzwischen aber auch nicht mehr unschicklich ist, in der Kirche zu applaudieren, hat sich das erledigt, bzw. ist auf den 1. Akt zusammengeschrumpft.
Parsifal ist die letzte Oper (»Bühnenweihfestspiel« nannte sie der Komopnist) Richard Wagners, das einzige Bühnenwerk, das er nach dem Ring des Nibelungen noch schrieb. Es ist das einzige Werk für das Festspielhaus in Bayreuth, in das die akustischen Erfahrungen eingeflossen sind, den Ring hat Wagner angefangen zu schreiben, als der Bau des Hauses noch nicht begonnen war. Vordergründig mag man – vor allem im 1. und 3. Akt – eine Vereinfachung feststellen, was nicht mti einem Rückschritt verwechselt werden sollte. Die gegenüber dem Ring und vor allem gegenüber Tristan und Isolde geradlinigeren harmonischen Strukturen sind keine Abkehr vom musikalischen Fortschritt, sondern eine Verlagerung des Experimentierens mit der Klangfarbe von der Vertikalen in die Horizontale. Während in Tristan und Isolde die ständige Bewegung aus den sich städig verändernden Akkorden (vertikal, d. h. in der Partitur übereinander geschrieben) ergibt, verändern sich jetzt die Klangfarben durch hinzutreten bzw. ausblenden einzelner Instrumente in einer laufenden Melodie (also horizontal). In der Reduktion der Harmonik liegt auch eine Radikalität, die zuerst bei Wagners Schwiegervater, Franz Liszt, in einige seiner geistlichen Werke zu beobachten ist. Als Beispiel mag dazu Via crucis von (1878/79) dienen (hier kann man es bei Youtube hören, der Vorteil dieses Clips ist, dass, wer die mittelalterliche Neumenschrift zu lesen versteht, mitverfolgen kann, wie Liszt sich an die gregorianische Melodie anlehnt; Version mit größerem Chor und Orgel statt Klavier hier).
Hauptquelle für Wagners Parsifal ist Wolfram von Eschenbachs (ca. 1160 oder 1180 bis ca. 1220) Versroman Parzival, Wagner erklärt im Libretto die phonetische Änderung mit angeblich altpersischen Bedeutungen der Worte »fal« (»töricht«) und »parsi« (»rein«). Wolfram seinerseits bezog den Stoff von Chrétien de Troyes (ca. 1140 bis ca.1190), der Li Contes del Graal ou Le roman de Perceval (Die Geschichte vom Gral oder Der Roman vom Parzival) unvollendet hinterließ. Auch Chrétien gibt vor eine Quelle zu benutzen, die ihm sein Auftraggeber, Philipp von Flandern (Kreuzfahrer, 1143–1191) gegeben habe. Das mag aber eine Bescheidenheit sein, die nur Höflichkeit gegenüber Philipp bedeutet. Perceval oder Percival gehört zu den Rittern der Tafelrunde, er spielt auch in Sir Thomas Malorys La morte d'Arthur eine große Rolle. Ferner ist er immer mit der Suche nach dem Gral assoziiert, wobei die Erklärungen, was der Gral sei, sehr unterschiedlich sind. Ein Stein, eine Hostie, oder ein Gefäß. Größte Bedeutung hat die (von Wagner stillschweigend geförderte) Vorstellung des Grals als des Bechers, mit dem nach dem Lanzenstich am Kreuz Jesu Blut aufgefangen wurde. Zusammen mit der Vorstellung Kundrys als der verfluchten Magd, die Jesus am Kreuz verlachte, dafür mit Wahnsinn gestraft (und ähnlich dem fliegenden Holländer zu ewigem Leben verdammt) wurde, und der Lanze, die eine nicht heilende Wunde bei Amfortas schlug ergibt sich tatsächlich eine enge Verbindung der Parsifal-Handlung zum Geschehen um die Kreuzigung Jesu.
Das Deutsche Opernhaus war am 1. Januar 1914 (fast) das erste Opernhaus weltweit, das ohne damit Urheberrecht zu verletzen, Parsifal aufführte. 1924 wurde die Inszenierung vollkommen überarbeitet und unter der Leitung von Paul Breisach aufgeführt, der wenig später einer der wichtigsten Mitarbeiter von Bruno Walter an der Städtischen Oper wurde. 1938 kam es zu einer Neuinszenierung am Deutschen Opernhaus, was insofern interessant ist, dass Parsifal zu dieser Zeit, wo schon der Krieg vorbereitet wurde, für die Machthaber viel zu pazifistisch war und eigentlich nur noch in Bayreuth aufgeführt werden sollte, wo es aber nach 1939 auch keine Aufführungen mehr gab.
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