Die beiden Premieren des Wochenendes scheinen auf den ersten Blick extrem gegesätzlich zu sein. Ein zeitgenössisches Werk (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Helmut Lachenmann, uraufgeführt 1997) in der Deutschen Oper Berlin steht einer Trilogie mit Werken aus den Anfängen der Opernkunst in der Komischen Oper gegenüber. Was Orfeo von Claudio Monteverdi (uraufgeführt 1607 in Mantua) mit dem Mädchen mit den Schwefelhölzern verbindet, ist zunächst einmal, dass sie beide – die Feststellung ist fast ein wenig banal – nichts mit der vorherrschenden Operntradition zu tun haben. Was wir heute als »Oper« bezeichnen, ist verkürzt gesagt ein Drama, bei dem zur Hauptsache gesungen wird statt gesprochen und in dem durch die Musik der Selbstrefelxion der Figuren ein wesentlich größerer Raum zugestanden wird, etwa in den Arien, die viel mehr sind als entsprechende Monologe im gesprochenen Theater. Voraussetzung dafür ist eine individuelle Geschichte, die den singend handelnden Menschen ins Zentrum rückt. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bleibt die Erzählstruktur linear, d. h. die zeitliche Abfolge von Ereignissen und Befindlichkeiten wird eibngehalten, es gibt keine Rücksprünge. Je nach Selbstverständnis (und Begabung) des Komponisten komponiert er der Dramaturgie entlang und reichert die Orte und den Verlauf des Dramas mit Klängen an, die das Gemeinte verdeutlichen, oder er komponiert einen Kommentar, der auf die Widersprüche in den Personen und ihren Handlungen verweist. Also entweder ist die Musik Illustration, oder sie hat eine eigenständige Funktion. In jedem Falle aber wird eine Geschichte erzählt, die für den Zuschauer neu und interessant sein soll, die er vielleicht kennt, die er aber noch nie so interpretiert gesehen hat. Genau umgekehrt ist das Konzept der ganz frühen Oper. Hier wird die Handlung als bekannt vorausgesetzt. Jeder weiß, dass Orpheus in den Hades steigen wird, um Eurydike zurückzuholen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers/Zuhörers wird nicht primär durch die Geschichte geweckt, sondern durch die Art, wie sie erzählt wird. Und genau hier trifft sich Monteverdi mit Lachenmann. Auch Lachenmann setzt für die Rezeption seiner »Musik mit Bildern« die Kenntnis des Märchens von Hans Christian Andersen voraus. Seine Musik ist, wie er selbst sagt, »kein Text«, der etwas erzählt oder beschreibt, sondern ein Zustand. Die Frage muss erlaubt sein, ob es sich dann tatsächlich um ein Werk für ein Opernhaus handelt. Die Antwort gibt zunächst der Komponist selbst mit seinem Untertitel, der – gewiss unabsichtlich – an die Formulierung von Carl Orff bei den Carmina burana erinnert (»Cantiones profanae Cantoribus et choris cantandae comitantibus instrumentis atque imaginibus magicis« = »Weltliche Gesänge für Sänger und Chöre, begleitet von Instrumenten und Bildern voll Zauber«, wenn mich meine Lateinkenntnisse nicht im Stich gelassen haben). Nimmt man die Partitur in die Hand, dann sieht man darüber hinaus sofort, dass das Werk eigentlich nur von einem Opernhaus angemessen interpretiert werden kann. Auch wenn sich das Solistenensemble auf zwei Sopranistinnen konzentriert und der Chor für 32 Stimmen konzipiert ist, gibt es kaum einen Ort, an dem das Werk musikalisch besser dargestellt werden kann, als ein Opernhaus. Das hängt vor allem mit den räumlichen Dimensionen der Musik zusammen, die einerseits eine Akustik erfordern, die am ehesten in einem Opernhaus gegeben sind, und andererseits ein Orchester, das allein von der Zahlenstärke her ungefähr dem entspricht, was bei Wagner, Strauss etc. verlangt wird.
Dem Verzicht auf eine lineare Erzählstruktur auf der bildlichen Ebene entspricht auf der musikalischen der Verzicht auf wiedererkennbare Melodien und Harmonien. An ihre Stelle treten Klänge, die mit den Instrumenten und mit der Stimme hergestellt werden, wobei die Elemente Geräusch und Ton auseinandergenommen und neu bewertet werden. Jeder von der Violine gespielte Ton enthält auch einen Anteil von Kratzgeräusch. In der klassischen Spielweise wird alles getan, den Kratzanteil unhörbar zu machen. Lachenmann schreibt in seiner Partitur auch den umgekehrten Weg vor. Die Streicher müssen auch kratzen, die Bläser auch tonlos Luft durch ihr Instrumente pressen, sowie die Geräusche der Klappen und Ventile rhythmisch einsetzen. Das alles gibt es seit den 1950er-Jahren in der »musique concrète«, einer Musikrichtung, die Alltagsgeräusche mit einbezieht und Instrumente darauf reagieren lässt, aber in einer solchen Konsequenz, wie Lachenmann das anwendet, war es für die 1997 Oper neu und ist es immer noch revolutionär.
Genauso revolutionär war 1607 Claudio Monteverdi, als er die neue Kunstform der »favola drammatica« auf musikalische Füße stellte. Waren die Experimente der »Camerata« kunstsinniger Adliger und neugieriger Literaten und Komponisten noch ganz darauf abgezielt, einen neuen Deklamationsstil zu etablieren und nach antikem Vorbild der Musik im Drama einen wichtigen Platz einzuräumen, so entwarf Monteverdi als erster für seinen Orfeo eine von der Musik bestimmte Dramaturgie. Damit gab er der Oper eine neue Richtung. 34 Jahre später war er es wieder, der zwei ganz gegensätzliche Impulse gab mit seinen letzten beiden Opern. Seit 1637 war die Oper nicht mehr ausschließlich den geladenen Gästen der jeweiligen Höfe vorbehalten. Es gab nun, zuerst in Venedig, öffentliche Opernhäuser, die Besucher gegen Entgelt empfingen – und daraus ein Geschäft machten. Allzu wörtlich sollte man das allerdings nicht nehmen, denn immer noch waren die Adelsfamilien die Eigner der Häuser und subventionierten den Betrieb, aber es gab nun erstmals eine Abhängigkeit vom Verkauf der Eintrittskarten. Damit ging eine Umwertung sämtlicher Elemente des Opernbetriebes einher. So war jetzt das Bühnenbild nicht mehr hauptsächlich dazu da, den gastgebenden Fürsten prunken zu lassen, sondern musste an sich attraktiv sein (was natürlich nicht bedeutet, dass es weniger aufwändig sein sollte). Auch Musik und Handlung mussten jetzt so fesselnd sein, dass das Publikum nicht bloß aus Höflichkeit dem Fürsten gegenüber sitzen bleibt, sondern im Gegenteil nicht genug davon bekommen kann. In der ersten Oper die Monteverdi für eines dieser neuen Theater in Venedig schrieb, Il ritorno d'Ulisse in patria experimentierte er musikalisch auf den Spuren der frühen Oper. Der Sänger steht absolut im Zentrum, sein »Deklamieren« des Textes wird von einem eher begleitenden Orchester unterstützt. Jedenfalls stellt es sich aus dem erhaltenen Material so dar, das fast nur die Singstimme und den Generalbass umfasst. Bei L'incoronazione di Poppea wählte er einen anderen Weg. Nicht nur verlässt er hier die Sagenwelt und schreibt die erste »historische« Oper, zwar immer noch in der Antike angesiedelt, aber nun mit einer Handlung, die Menschen aus Fleisch und Blut, Herren und Diener, Intriganten und Verliebte, Betrunkene, Phantasten und Philosophen auf die Bühne bringt; er erfindet seine musikalische Sprache mit 75 Jahren noch einmal neu.
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