Montag, 4. April 2011

Arrigo Boito: Mefistofele

Mit drei Opernlibretti, die alle schon irgendwann in unserem Kurs vorgekommen sind, ist Arrigo Boito (1842–1918) bis heute berühmt. Zwei davon sind für Verdi geschrieben, Otello und Falstaff, das dritte für Amilcare Ponchielli, La Gioconda. Für Verdi schrieb er davor schon seinen allerersten Text, den Inno delle nazioni für die Weltausstellung in London 1862. Später, und das festigte die Künstlerpartnerschaft so bemerkenswert, dass die beiden letzten Meisterwerke entstehen konnten, ging Boito Verdi bei der Überarbeitung des Simon Boccanegra zur Hand, wo große Teile des Textes neu geschrieben werden mussten.
Dazwischen schrieb er unter eine Pseudonym, eine Anagramm seines richtigen Namens, Tobia Gorrio, das Libretto für Ponchielli nach einer Vorlage von Victor Hugo.
Zunächst strebte Boito jedoch eine Musikerkarriere an. Er studierte ab 1853 in Mailand, Violine, Klavier und Komposition. Sein wichtigster Lehrer war Alberto Mazzucato, aus zwei Gründen notorisch in der Musikgeschichte – er wurde im selben Jahr wie Verdi und Wagner geboren, 1813, und er schrieb eine Fidanzata di Lammermoor ein Jahr vor Donizettis Lucia di Lammermoor.
Mit der Kantate Il quattro giugno debütietre Boito 1860, den Text dazu hatte er sich auch schon selbst geschrieben. Das erste Opernlibretto schrieb er kurz danach für seinen Kommilitonen Franco Faccio, schon hier ging es um Shakespeare, nichts weniger als ein Amleto. Franco Faccio kennen wir heute eher als Dirigent, er hat Verdi- und Puccini-Premieren dirigiert.
In den folgenden Jahren schloss sich Boito der Bewegung der "Scapigliati" an. Diese Protestbewegung junger und auch nicht mehr so junger Künstler forderte Freiheiten nicht nur in der Kunst sondern auch im persönlichen Leben, etwa im Umgang mit Religion oder mit Drogen (Baudelaire forderte Ähliches zur gleichen Zeit in Frankreich). Der Name der Beweung spielt auf den freien Umgang mit dem Friseur an, "scapigliare" heißt "zerzausen", man hat sich also eine Gruppe von unangepassten Bohémiens vorzustellen.
E. Th. A. Hoffmann und Heinrich Heine gehörten zur Pflichtlektüre der "Scapigliati", auch Novalis und die deutsche Frühromantik war ihnen gläufig und selbstverständlich Goethe, dessen Faust ja schon von Berlioz und Gounod musikalisch bearbeitet worden war.
Schon auf der Reise durch Frankreich, Polen (seine Mutter war eine polnische Gräfin) und Deutschland 1860, wo er in Paris erstmals auf Verdi traf, beschäftigte sich Boito mit Faust. Von den vielen Vertonungen des Stoffes ist Boitos Fassung die einzige, die den 1. und 2. Teil von Goethes Tragödie zusammenbringt, sieht man von einer Szene in der Damnation de Faust von Berlioz ab. Die anderen beschränken sich entweder auf die Gretchentragödie (z. B. Gounod) oder sie folgen dem Vorbild Goethes, dem mittelalterlichen Puppenspiel (z. B. Busoni). Oder, in der großen oratorischen Bearbeitung Mahlers (8. Sifnonie), auf den Schluss des 2. Teils.
Die Uraufführung an der Scala 1868 war ein Fiasko und ein Skandal, möglicherweise haben einige der Störer im Publikum jedoch gar nicht das Werk abgelehnt, sondern den Autor, denn die "Scapigliatura" war von der feinen Mailänder Gesellschaft geächtet. Nach nur drei Vorstellungen verschwand das Werk von der Bühne und Boito überarbeitete die Partitur gründlich. Aus der Baritonpartie des Faust wurde eine Tenorpartie und mehr als ein Drittel der Musik fiel der Schere (und offenbar auch dem Reißwolf!) zum Opfer. Die heute einzig bekannte Version der Oper hatte 1875 in Bologna Premiere und war ein unmittelbarer Erfolg.
Auffällig ist am Libretto, dass weite Teile nichts anderes als eine außergewöhnlich poetische Übersetzung von Goethes Text darstellen. Insofern ist Mefistofele (trotz der Verschiebung des Hauptaugenmerks auf den Teufel) ein Vorläufer der "Literaturoper" des 20. Jahrhunderts (Salome, Elektra, Wozzeck, Lulu und weiter bis Oedipus, Bernarda Albas Haus, Drei Schwestern). Der Prolog und die ersten 3 Akte folgen dem 1. Teil Goethes, für den 4. Akt und den Epilog hat Boito den 2. Teil Goethes quasi auf die Walpurgisnacht und Fausts Tod verkürzt.
Der Prolog entspricht dem Prolog im Himmel. Die Stimme Gottes ist durch den "Chorus mysticus" ersetzt ("T'è noto Faust?" – "Kennst Du den Faust?"). Wie in einem Scherzo führt sich Mefistofele ein und der Schwefelgestank manifestiert sich akustisch im abgründig höhnischen Pfeifen der Titelfigur.
Der erste Akt enthält den Osterspaziergang und die Studierstube mit dem Teufelspakt des Faust am Ende. Aus dem schwarzen Pudel ist ein grauer Mönch geworden, die antiklerikale Haltung, die hinter dieser subtilen Änderung steht, gab dem bürgerlichen Publikum ebenso Anlass zur Erregung, wie der pfeifende Hauptdarsteller im Prolog. – Interessant ist es, den Auftritt des Teufels in der Studierstube bei den verschiedenen Vertonungen zu vergleichen: ein (schwer zu realisierender, weil in Nullkommanichts auftauchender) Theatereffekt bei Berlioz, eine lange Beschwörungsszene bei Busoni, eine beiläufige Entdeckung bei Boito.
Der zweite Akt enthält die Gartenszene und die Walpurgisnacht im Harz. Alles, was zwischen Faust und Gretchen vor ihrer Verhaftung passiert, ist in das groß angelegte Quartett der Gartenszene gepackt. Die Verführung, ihr Zögern, ihr Schuldigwerden. Boito zeigt sich hier ganz als Meister der italienischen Oper, der alles mit der Singstimme auszudrücken vermag. Der Vorwurf des Wagnerismus, der von den Zeitgenossen erhoben wurde ist hier besonders unverständlich. In der Walpurgisnacht dafür dann umso mehr Gelegenheit, das Orchester sprechen zu lassen. Aber auch hier die jetzt dritte große Arie des Mefistofele (die zweite war in der Studierstube: "Son lo spirito che nega..." – "Ich bin der Geist, der stets verneint..."), "Ecco il mondo vuoto e tondo..." (entspricht "Zum Jüngsten Tag fühl ich das Volk gereift..."), worin man eine Vorstudie des Credo im Otello sehen kann.
Der dritte Akt spielt im Kerker. Weit präziser ist Gretchens Wahnsinn in einer Arie modelliert als etwa bei Gounod. Duett, Terzett und das "Gerettet" der Himmlischen Heerscharen entspricht dann wieder anderen Vertonungen.
Der vierte Akt ist ganz der Klassischen Walpurgisnacht, "Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta" vorbehalten und der Epilog zeigt Fausts Tod. Vokaler Höhepunkt der Walpurgisnacht ist Fausts Arie, ein Loblied auf die Schönheit. Der Akt klingt aus mit einem Duett Faust–Helena. Im Epilog versteckt sich die harmonisch interessanteste und avancierteste Musik.

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