Eine sehr ungewöhnliche Oper beschäftigt uns dieses Mal. Auf den ersten Blick scheint alles klar zu sein - Nummernoper, Teufelspakt, lyrische Haltepunkte. Und wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Eindeutigkeit.
Spätestens seit Strawinsky endgültig in Amerika angekommen war (Übersiedlung 1940 nach ausgedehnten Konzertreisen 1925, 1934 und 1937 sowie Gastvorlesungen an der Harvard University 1939), hegte er den Wunsch, eine Oper in englischer Sprache zu schreiben. 1947 empfing er die entscheidende Anregung in einer Ausstellung in Los Angeles. Er sah dort den Zyklus A Rake's Progress (1735) von William Hogarth (1697–1764), allem Anschein nach waren die Kupferstiche und nicht die Gemälde, die den Kupferstichen zugrunde lagen. Hogarth hat mehrere Bildzyklen gemalt, die er danach als Kupferstiche verbreitete (und damit die Einnahmen vervielfachte). Vorangegangen war A Harlot's Progress ("Die Karriere einer Hure", 1931/32), es folgte 1745 Marriage A-la-Mode, das Vorbild für die "Lever"-Szene im Rosenkavalier von Richard Strauss. Leider sind viele Gemälde verloren gegangen (A Harlot's Progress verbrannte 1755), vom Rake sind beide Versionen erhalten, die Gemälde und die Kupferstiche, so dass man sie vergleichen kann – und das wollen wir auch tun, wenn ich morgen den Beamer benutzen kann.
William Hogarth verdanken wir auch die bildliche Überlieferung eines der größten Opernerfolge im England seines Jahrhunderts, The beggar's opera. Es ist die Zeit von Jonathan Swift, Daniel Defoe, Henry Fielding, Gullivers Reisen, Robinson Crusoe, Tom Jones. Die Herzöge aus Hannover-Braunschweig auf dem englischen Königsthron (Georg I. 1714–1727, Georg II. 1727–1760), Porpora und Händel mit den Kastraten im damals schon Royal Opera House Covent Garden (und anderen Opernhäusern).
Mozart ist das Vorbild für Strawinsky, allerdings mehr der Mozart, den er in seinem Kopf hatte, als ein neu anhand der Partituren überprüfter, wie man lange glaubte, da bekannt ist, dass Strawinsky von seinem Verleger die Partituren der Da-Ponte-Opern anforderte; es waren jedoch nur Klavierauszüge aufzutreiben und auch nicht von allen drei Opern.
Offensichtlich ist die Parallele zwischen der Friedhofsszenen in Don Giovanni und The Rake's Progress. Aber manche melodische Wendung, insbesondere von Anne und Tom, geht auf den Duktus von Così fan tutte zurück.
Strawinsky plante zuerst eine Oper mit Dialog, später entschied er sich doch für Rezitative und gab dem Cembalo eine herausragende Aufgabe. Für die Uraufführung (die dann doch nicht in den USA stattfand, sondern in Venedig) ließ sich offenbar kein Cembalo auftreiben, es wurde ein Klavier verwendet, was in der Partitur ausdrücklich als Besetzungsmöglichkeit angegeben ist.
Aldous Huxley, Strawinskys Nachbar in Hollywood, soll Wystan Hugh Auden als Librettisten vorgeschlagen haben, der bis dahin nur einmal als Librettist in Erscheinung getreten war, für die Operette Paul Bunyan von Benjamin Britten. Zurück in New York zog dieser seinen Künstler- und zeitweiligen Lebens-Partner Chesster Kallman bei und damit war eines der erfolgreichsten Autoren-Duos für die Oper des 20. Jahrhunderts gegründet, Auden/Kallman, das später Libretti für Henze und Nabokov schrieb.
Fast eine Kammeroper – und daher sehr gut geeignet für die Staatsoper im Schillertheater, wie damals die Deutsche Oper im Theater des Westens. Die Orchesterbesetzung orientiert sich ebenfalls an Mozart: je zwei Holzblasinstrumente, zwei Hörner (und nicht vier wie im Orchester des 19. Jahrhunderts), zwei Trompeten, Pauken, Streichorchester. Vieles erinnert an die "neoklassische" Periode (mit z. B. Pulcinella), nur wenig lässt den Spätstil ahnen, den Strawinsky erst danach ausbildet. Fast zu perfekt ist jeder Klang, jede Melodie austariert. Lassen wir uns verzaubern.
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