Sonntag, 24. November 2024

Engelbert Humperdinck

Hänsel und Gretel gehört zu den beliebtesten Opern nicht nur in Deutschland, sondern auch in englischsprachigen Ländern. Wie Mascagni, Leoncacvallo und noch ein paar andere Komponisten, ist Engelbert Humperdinck (* 1. September in Siegburg, in der Nähe von Köln) in der öffentlichen Wahrnehmung ein »Ein-Werk-Komponist«, denn trotz vielfacher Wiederbelebungsversuche, haben sich andere Werke von ihm bisher nicht im Repertoire etabliert. Das könnte sich gerade ändern, denn in den letzten Jahren haben einige große Opernhäuser (Zürich, Amsterdam, Frankfurt, Dresden z. B.) Die Königskinder in ihren Spielplan aufgenommen, meist jedoch bald wieder aussortiert. Allerdings sind dabei einige CD- bzw. DVD-Aufnahmen entstanden, die wir bei verschiedenen Streamingdiensten hören oder sehen können. Die Amsterdamer Inszenierung von Christof Loy gibt es in der Naxos Video Library. Tonaufnahmen gibt es mehrere, auch einige Rundfunkaufnahmen, die unabhängig von szenischen Aufführungen entstanden sind, angefangen mit einer WDR-Aufnahme von 1952 unter Richard Kraus mit Peter Anders und Dietrich Fischer-Dieskau als Königssohn und Spielmann (hier bei YouTube) über die lange Zeit als Schallplatte bzw. CD konkurrenzlose Münchner Aufnahme unter Heinz Wallberg von 1989 mit Helen Donath. Adolf Dallapozza, Hermann Prey und Hanna Schwarz (hier auch bei YouTube) bis zu der vermutlich 2011 ebenfalls in München entstandenen von Fabio Luisi mit Dagmar Schellenberger, Thomas Moser, Dietrich Henschel und Marilyn Schmiege, die ich bei YouTube nicht gefunden habe (aber bei Deezer und Spotify).

Humperdincks Konzept der Märchenoper wird gern als Fortsetzung des auf mythologische Stoffe ausgerichteten Musikdramas Richrd Wagners gesehen. Vielleicht ist das nicht ganz angemessen, aber die Nähe zu Wagner ist ganz real und biografisch dokumentiert: 1880 bis zu dessen Tod war Humperdinck der wichtigste Assistent Wagners in Bayreuth und Venedig. Zunächst bei der Fertigstellung der Parsifal-Partitur und deren Einstudierung und Uraufführung und dann bei der Uraufführung der 50 Jahre früher komponierten C-Dur-Sinfonie, die »Hümpel«, wie Wagner ihn nannte, dirigierte. Als Humperdinck 1880 in Neapel Wagner zum ersten Mal begegnete, hatte er seine Kompositionsstudien gerade abgeschlossen, Ferdinand Hiller war in Köln sein wichtigster Lehrer, Joseph Rheinberger in München. Von Ferdinand Hiller hier ein Musikbeispiel, die Ouvertüre zu der 1845 (wie Wagners Tannhäuser) in Dresden uraufgeführten Oper Ein Traum in der Christnacht. Hänsel und Gretel ist da nicht fern. Joseph Rheinberger kennt man vor allem als Komponisten geistlicher Werke: eine Weihnachtskantate (das vielleicht am häufigsten aufgeführte Werk), 14 Messen, 2 Stabat Mater, ein Orgelkonzert. Er schrieb aber auch Singspiele und zwei Opern, hier die Ouvertüre zu Die sieben Raben, 1869 in München uraufgeführt, also im gleichen Jahr, in dem Ludwig II. gegen Wagners Willen Das Rheingold aufführen ließ, vor der Uraufführung des Rings des Nibelungen.

Wagner vertraute Humperdinck bei der Fertigstellung der Parsifal-Partitur blind, man sagt, dass Teile des »Karfreitagszaubers« von Humperdinck instrumentiert seien. Dieses Arrangement für Klavier vierhändig ist jedoch auf jeden Fall von Humperdinck. Hunperdinck reiste gern und viel. Von Wagners Tod erfuhr er in Paris, wo er nachweislich mit André Messager vierhändig spielte, und zwar u. a. diese »Quadrille auf Themen aus dem Ring von Richard Wagner«. In München assisiert er 1884 Hermann Levi bei der bei der berühmten Privataufführung des Parsifal für Ludwig II. In Barcelona hat er eine Professur für Komposition, später eine in Köln, wo Cosima Wagner ihren Sohn Siegfried zu ihm in die Lehre schickt. (Also nicht Humperdinck ahmt Siegfried Wagner mit Märchenopern nach, es ist eher umgekehrt.)

1890 bestellt seine Schwester Adelheid Wette Musik für ein von Kindern aufzuführendes Weihnachtsspiel nach dem Märchen von Hänsel und Gretel. In dieser Urform werden die vier Duette von Hänsel und Gretel im privaten Kreis aufgeführt, so wie zwei Jahre zuvor Ähnliches nach dem Schneewittchen. Gleich nach der erfolgreichen Aufführung als »Kinderstubenweihespiel« erweitern es Adelheid Wette und Humperdinck zum Singspiel unter Hinzufügung des Besenbinders, des Sand- und Taumännchens und der 14 Engel. Aus der hartherzigen Mutter der Brüder Grimm, die ihre Kinder zur Strafe in den Wald schickt, wird hier erst die mitfühlende und von Armut geplagte. Diese Singspielfassung wurde schnell verdrängt von der vollgültigen Opernfassung, an der Humperdinck seit Dezember arbeitete. Und damit geht die Karriere des nahezu 40jährigen und wegen mangelnden Erfolgs verzweifelten Komponisten los. Hermann Levi in München, Richard Strauss in Weimar, Felix Mottl in Karlsruhe und Ludwig Rottenberg in Frankfurt wollen alle die Uraufführung haben sowie sie dir Partitur in Händen hatten. Richard Strauss gewinnt und so kommt die Oper am 23. Dezember in Weimar zuerst heraus. Es folgen München, Karlsruhe und Frankfurt/M. sowie insgesamt fast 50 Bühnen innerhalb eines Jahres. Gustav Mahler etwa dirigierte in Hamburg, Felix Weingartner in Berlin.

Leider gibt es von den ersten beiden Fassungen Hänsel und Gretel keine Video- oder Tonaufnahmen (oder ich habe sie nicht gefunden), dafür ist die Flut an Openfassungen unübersehbar. Als Besonderheit möchte ich diese Fersehaufzeichnung von 1957 in italienischer Sprache mit Fiorenza Cossotto als Hänsel herausheben. Und da wir schon international sind, hier die Metropolitan Opera in Englisch mit Frederica von Stade und Judith Blegen. Und dann die Klassische Tonaufnahme aus London von Karajan 1953 mit den beiden Elisabeth, Schwarzkopf und Grümmer hier. Die 50er Jahre Aufnahmen von Karajan sind seine besten.

Nach Die sieben Geislein 1895 noch einmal mit seiner Schwägerin erhält Humperdinck von verschiedenen Autoren und Autorinnen Vorschläge für weitere Märchenspiele. Darunter ist Elsa Bernstein, die unter dem Pseudonym Ernst Rosmer schreibt. Von ihr erhält er 1898 Königskinder. Ein Märchen. Dies ist nun schon ein Werk für größere Bühnen mit Orchester. Von der ersten Fassung als Melodram ist das knappe Vorspiel auf YouTube verfügbar, hier. Das wurde bald zu dieser Konzertouvertüre Der Königssohn erweitert. Von da ist es nicht mehr weit zum Vorspiel der Oper Die Königskinder (1910), hier gespielt vom Orchester der Städtischen Oper Berlin unter Artur Rother. Das Vorspiel zum zweiten Akt (»Fest in Hellabrunn«) klingt in der Urfassung so. Und das zum dritten Akt (»Verdorben, gestorben«) so. Die Gesamtaufnahmen, von denen am Anfang die Rede war, bilden alle die Opernfassung ab, die Humperdinck für die Metropolitan Opera schrieb, und die dort wenige Wochen nach La fanciulla del West von Giacomo Puccini zur Uraufführung kam.

Seit 1900 unterrichtete Humperdinck an der Berliner Akademie der Künste und hatte hier seinen Lebensmittelpunkt. Dornröschen mit einem Text von Elisabeth Ebeling und Bertha Lehrmann-Filhés, eine Märchenoper, in der viel gesprochenwird, teils mit Musik untermalt; sie kam 1902 in Frankfurt/M. heraus. Ulf Schirmer bemühte sich in seiner Münchner Zeit um eine Wiederbelebung, hier zu hören. Danach nahm sich Humperdinck für ie Oper einen ganz anderen Stoff vor, den er bei Alexandre Dumas d. Ä. (also nicht dem von der Traviata, sondern von dem der Drei Musketiere) fand. Das Theaterstück Les demoiselles de Saint-Cyr arbeitete seine Frau Hedwig zum Libretto um und unter dem Titel Die Heirat wider Willen brachte Richard Strauss die Oper 1905 in Berlin zur Uraufführung, noch lange bevor er seine eigene Salome hier präsentierte. Von Die Heirat wider Willen gibt es eine Aufnahme vom Bayerischen Rundfunk, die zweitweise auf CD verfügbar war, und die Sie bei Streamingdiensten hören können (dazu wieder einmal der Hinweis auf die Naxos Music Library, die sie mit Ihrem Ausweis von der Stadtbibliothek erreichen können).

Nachdem er schon ganz früh Musik für Schauspiele komponiert hatte, 1879, noch während de Studiums skizzierte er eine Musik zu Die Frösche von Aristophanes, kam er in Berlin zu Max Reinhardt und zum Zirkus Busch in Kontakt. Für Max Reinhardt schrieb er erst mehrere Begleitmusiken zu Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig (1905), Das Wintermärchen und Der Sturm (1906) und dann noch Was ihr wollt (1907). Für den Zirkus Busch schrieb er 1906 Bübchens Weihnachtstraum, der vom MDR auf CD aufgenommen wurde, hier die Playlist, leider von Fremdkörpern durchzogen, einfach weiterklicken! Mit Max Reinhardt ging es weiter zu Lysistrata (1908) von Aristophanes und Der blaue Vogel (1910 komponiert, 1912 aufgeführt) von Maeterlinck. Eine Zusammenstellung von Bühnenmusiken gibt es in dieser Playlist (hier ist nichts Falsches drin). 

Das ganz große Projekt hatten die beiden mit Karl Vollmoeller, Das Wunder, oder später nach der Uraufführung 1911 in London als The Miracle, Das Mirakel. Peter P. Pachl hatte sich als Intendant der Berliner Symphoniker sehr um eine Wiederbelebung dieser Musik bemüht, die Aufführung in der Philharmonie war leider zu einem ungünstigen Zeitpunkt und wurde nicht so sehr beachtet. Er hatte dabei auch Ausschnitte aus dem von Max Reinhardt begonnenen und von Michel Carré beendeten Film Das Mirakel von 1912 aufgeboten, die wurden allerdings auf für den Saal viel zu kleine Leinwände projiziert, so dass wir mehr davon haben, wenn wir die Schlussszene jetzt in diesem YouTube-Video sehen.

Zwei weitere Spielopern, Die Marketenderin (1914, Köln) und Gaudeamus (1919, Darmstadt) hatten keinen nachhaltigen Erfolg. Am 27. September 1921 starb Humperdinck an einem Schlaganfall (dem zweiten nach seiner Rückkehr aus London für The Miracle) in Neustrelitz, wo sein Sohn Wolfram den Freischütz inszenierte. Außer Siegfried Wagner gehören u. a. die Komponisten Cyril Scott (1879–1970, nach Eugene Goossens »Vater der modernen britischen Musik«), Robert Stolz (1880–1975), Manfred Gurlitt (1890–1972, komponierte als erster Die Soldaten von Lenz und zeitgleich mit Alban Berg Wozzeck), Friedrich Holländer (1896–1976), Leo Spies (1899–1965, Komponist zahlreicher Ballette am Deutschen Opernhaus in den 30ern) und Kurt Weill (1900–1950) zu seinen Schülern.

Mehr Humperdinck am Mittwoch wie üblich,
Ihr Curt A. Roesler

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