The Golden Cockerel ist laut The New Grove Dictionary of Opera (Ausgabe 1992) die einzige Oper Rimsky-Korsakows, die auch außerhalb Russlands eine Aufführungstradition hat. Es ist zwar nicht so, dass Sadko, Die Legende von der Unsichtbaren Stadt Kitesh, Das Märchen vom Zaren Saltan und Die Zarenbraut nie außerhalb Russlands aufgeführt wurden, über die alle haben wir hier schon gesprochen und auch Mozart und Salieri war einmal dran. Aber seit 1914 ist Le coq d'or ein wirklicher Welterfolg (in Berlin bisher trotzdem nur 1923 und 1968 in der Staatsoper zu sehen). Unter dem französischen Titel nämlich führte Serge Diaghilev die Oper damals mit seinen »Ballets russes« in Paris auf. Und er erfand dafür eine Präsentationsform, die bis heute nachwirkt. Er ließ die Sänger in Abendgarderobe an der Seite stehen und ließ die Handlung von Tänzern auf der Bühne darstellen, choreographiert von Michael Fokine. Der durchschlagende Erfolg hatte weitere Erstaufführungen zur Folge: in London noch im gleichen Jahr, in New York 1918. An der Metropolitan Opera wurden Opern damals grundsätzlich nur in 3 verschiedenen Sprachen aufgeführt, was zur Folge hatte, dass Die verkaufte Braut eine deutsche Oper war (die dirigierte 1909 Gustav Mahler), Boris Godunow eine italienische (1913 von Arturo Toscanini dirigiert) und Der goldene Hahn eine französische, die zusammen mit einer italienischen gespielt wurde. Die gut zwei Stunden Aufführungsdauer schienen offenbar nicht ausreichend zu sein für einen ganzen Opernabend, deswegen gab es zur Einstimmung am 6. März 1918 die 175. Vorstellung von Cavalleria rusticana, dirigiert von Roberto Moranzoni mit Florence Easton und Ippolito Lazaro. Le coq d'or dirigierte Pierre Monteux, die Inszenierung wurde ähnlich der Produktion Michael Fokines in Paris von Tänzern mit Sängern an der Seite ausgeführt, Adamo Didur sang den von Adolph Bolm dargestellten Zaren Dodon, nur Marie Sundelius hatte in der Titelpartie offenbar keine Verdoppelung auf der Bühne.
Im Spätherbst 1906, nachdem er im Sommer am Gardasee seine Lebenserinnerungen abgeschlossen hatte, entschloss sich Nikolai Rimsky-Korsakow noch einmal eine Oper, seine nun 15., in Angriff zu nehmen. Aus den Memoiren sind daher keine Erkenntnisse zu diesem Werk zu gewinnen, denn 1908 starb der Komponist, ohne die Memoiren noch einmal aufzuarbeiten. Dennoch kann aus der Korrespondenz um die zu seinen Lebzeiten nicht zustande gekommene Uraufführung einiges geschlossen werden, was die Haltung Rimskys zu seiner Komposition betrifft. Unter anderem kam die Aufführung nicht zustande, weil Rimsky absolut nicht damit einverstanden war, dass man Kürzungen vornimmt – und auf diesen bestand die Zensur. Die Uraufführung an einem Moskauer Privattheater im Herbst 1909 und die wenige Wochen danach erfolgte Erstaufführung am Bolschoi-Theater erfolgte denn unvollständig und mit Textänderungen. Erst die schon erwähnte Erstaufführung in Paris war vollständig.
Für den Goldenen Hahn (in Russisch Solotoi petuschok – Золотой петушок) verwendeten Rimsky-Korsakow und sein Librettist Wladimir Bjelski ein Märchen in Versen von Alexander Puschkin mit dem gleichen Titel (Das Märchen vom goldenen Hahn – Сказка о золотом петушке). Von Puschkin hatte er schon 1898 einen Text vertont, den praktisch ohne Änderungen, die »kleine Tragödie« Mozart und Salieri, es war hier schon die Rede davon, z. B. im Novenber 2020 im Rahmen russischer Opern auf YouTube. Die vorletzte Oper Rimskys fußte ebenfalls auf einem Versmärchen von Puschkin, Skasanije o newidimom grade Kitesche i dewe Fewronii – Сказание о невидимом граде Китеже и деве Февронии, auf Deutsch Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und von der Jungfrau Fewronija. Puschkin hatte in dem Märchen vom goldenen Hahn seinerseits Vorlagen verwendet. Einerseits entnahm er zwei Erzählungen Washington Irvings Tales of the Alhambra (1832) und kombinierte sie, Das Haus des Wetterhahns und Die Legende vom arabischen Astrologen. Aber es gibt auch eine russische Vorlage: Ivan Krylov (1769–1844) schrieb 1792 Kaib, eine orientalische Erzählung. Krylow ist vor allem für seine Fabeln berühmt, die er später schrieb, diese Erzählung ist ein frühes Werk, das erstmals deutlich regierungskritisch ausgerichtet ist. Der Zar (bei Puschkin heißt er Dadon, bei Rimsky-Korsakow Dodon und der Anklang an Dodo, die flugunfähige ausgestorbene Dronte ist wahrscheinlich gewollt) führt einen sinnlosen Krieg und macht sich damit lächerlich. Bei Krylow war es eine Zarin – Katharina II., die u. A. im Krieg gegen die Osmanen die Krim annektierte. Alexander II., der Zar zu Rimskys Zeit, hatte gerade den Krieg gegen Japan verloren, was ihm die erste Revolution bescherte, die er im Januar 1905 niederzuschlagen versuchte und nur durch das Versprechen einer konstitutionellen Monarchie im Zaum halten konnte. Rimsky-Korsakow hatte sich mit den streikenden Studenten solidarisiert und wurde antsprechend sanktioniert. Der goldene Hahn ist eine von zahlreichen russischen Opernsatiren, deren bekannteste (und von Rimsky zweifellos beeinflusste) Die Nase von Dmitri Schostakowitsch ist. Die Musik Rimskys ist in vielerlei Hinsicht die Grundlage der Musik des 20. Jahrhunderts. Weder Strawinsky noch Ennio Morricone sind denkbar ohne sein Vorbild.
1. Akt: Im Prolog tritt der Astrologe (Tenor altino) auf und stellt sich als Zauberer vor, der die in der Oper folgende, sehr alte Geschichte in Szene setzt, aus der man Lehren ziehen könne: Zar Dodon (Bass) ist alt und beklagt sich darüber, dass er immer noch kämpfen müsse, weil ja die bösen Nachbarn sein Reich bedrohen. Der ältere Zarewitsch, Gwidon (Tenor), hat die Idee, die Armee von den Grenzen abzuziehen und an den Hof zu bringen, wenn es an der Grenze keine Soldaten mehr gebe, würde auch niemand mehr eindringen wollen, und zuhause sei es eh am Schönsten. Da ist General Polkan (Bass) gar nicht einverstanden, er meint, die Grenze sei viel leichter zu verteidigen als die Hauptstadt. Der jüngere Zarewitsch Afron (Bariton) meint, es würde doch genügen, wenn man die Armee einen Monat vor der erwarteten Attacke mobilisieren würde. General Polkan wendet ein, dass der Feind den Angriff wohl kaum einen Monat vorher bekanntgeben würde; da aber alle schon die Idee Afrons gut finden, fangen sie jetzt an sich zu überlegen, wie man am besten die Zukunft voraussagen könne. Das ist der Punkt für den Auftritt des Astrologen, der einen goldenen Hahn (Sopran) mitbringt, der, auf einer Anhöhe postiert, jede Grenzverletzung sofort melden kann. Der Zar verspricht dem Astrologen für diesen Dienst jeden Lohn, den er verlangt. Der will will das schriftlich haben, damit es auch »legal« sei. »Legal, was soll das?«, entgegenet der Zar, »meine Laune und mein Wille sind bei uns Gesetz.« Der Hahn bezieht Stellung und zeigt an, dass die Luft rein ist. Die Amme Amalfa (Alt) bringt dem Zaren Schlummertrunk und Essen, er will aber vor allem sein Lieblingsspielzeug, den Papagei. Sanft entschlummert er und die Musik gibt kund, dass er von der Zarin von Schemacha träumt. Drei Mal schlägt der Hahn Alarm, der General muss den Zaren wecken. Der schickt die ersten beiden Male seine Söhne in den Kampf, da sie nicht wiederkehren, muss er beim letzten Mal selbst losziehen.
2. Akt: Auf dem Schlachtfeld sucht der Zar den Feind, findet stattdessen aber nur die getöteten Söhne. Ihre beiden Armeen haben sich offensichtlich gegenseitig bekämpft und aufgerieben. Der Zar bereitet sich auf den Angriff vor, aber statt eines bewaffneten Feindes erscheint die sagenhafte Zarin (in den meisten Inhaltsangaben und auch auf den Schallplattenbeilagen ist sie die »Königin« oder die »Queen«) von Schemacha (Sopran) und singt ihre berühmte »Hymne an die Sonne«. Nicht mit Waffengewalt will sie, die Tochter der Zarin der Lüfte, den Zaren bezwingen, sondern durch Verführung. Nachdem General Polkan weggeschickt ist, beginnt sie ihr Spiel. Der Zar sträubt sich ein wenig, gibt aber allmählich nach, singt ein schräges Lied und tanzt zum Schluss sogar. Ihr zynisches Lachen scheint er gar nicht zu bemerken. Er ist ihr ganz verfallen und ordnet jetzt sogar die Hinrichtung des Generals an.
3. Akt: Das Volk wartet in einem aufziehenden Unwetter auf die Rückkehr der Armee. Amalfa klärt sie auf: Dodon wird eine Braut mitbringen, die künftige Zarin, und von seinen Söhnen kehrt keiner zurück. Mit großem Pomp zieht das Brautpaar ein. Sogleich erscheint auch der Astrologe, um seinen Lohn einzufordern. Er verlangt die Herausgabe der Zarin. Dodon schlägt ihn darauf tot. Als er seine Zarin jetzt endlich, wo alle Hindernisse aus dem Weg sind, umarmen will, weist sie ihn zurück. Während beide die Treppe zum Thron hochsteigen, verfinstert sich die Sonne, der Hahn springt von seinem Ausguck und pickt mit seinem Schnabel so lange auf den Kopf des Zaren, bis dieser tot ist. Als es wieder hell wird, sind der Hahn und die Zarin verschwunden, das Volk jammert.
Epilog: Der (wiederauferstandene?) Astrologe erscheint und erklärt, dass das alles nur ein Märchen sei, und man sich deswegen nicht beunruhigen soll. Im übrigen seien nur die Zarin von Schemacha und er reale Personen, alles andere sei Traum, Erfindung, bleiche Schatten, leere Luft...
Die Inszenierung, die von der Komischen Oper Berlin ab Ende Januar im Schillertheater gezeigt wird, ist eine Koproduktion mit dem Festival d'Aix und der Opéra de Lyon. In Lyon wurde sie bereits aufgezeichnet und ist als DVD bzw. BluRay zu erwerben. Bei MediciTV kann sie gestreamt werden, wer also dort ein Abo hat oder einen Ausweis der Staatsbibliothek, kann sie sehen. Es ist eine herausragende Produktion, Barrie Kosky ist es gelungen, an den musikalischen Kern des Werks zu dringen. Es spielen alle drei Akte an einem Dreiweg mit verwittertem Baum. Den langen Monolog am Anfang kann Zar Dodon (der wie aus einem Irrenhaus entlaufen erscheint) ohne störende Höflinge vortragen, der Chor und alle anderen Personen, die in anderen Inszenierungen meist die Aufmerksamkeit ablenken (wovor Rimsky-Korsakow ausdrücklich gewarnt hatte), treten nur für ihre jeweiligen Einsätze auf. Die Titelfigur wird von einem Tänzer und einer Sängerin interpretiert, alle anderen sind hervorragende Sängerdarsteller. Für den Epilog hat er sich auch etwas Besonderes audgedacht, was darauf Rücksicht nimmt, dass der Astrologe von Zaren erschlagen wurde, was ich aber hier nicht verrate. Drei Inszenierungen können Sie bei YouTube finden: zunächst eher traditionell Bolschoi-Theater Moskau 1988/89 – Es dirigiert Jewgeni Swetlanow, Artur Eisen singt den Zaren in einer prachtvollen Inszenierung von Georgi Asimow. Premiere war 1988 in Moskau, die Aufzeichnung erfolgte bei einem Gastspiel im Bunka Kaikan in Tokyo 1989. 2002 brachte Kent Nagano die Oper in die Stadt, wo der Welterfolg begann, nach Paris ins Théâtre du Châtelet. Er holte sich dafür Chor und Solisten des Mariinski-Theaters St. Petersburg und überließ die Inszenierung zwei japanischen Regisseuren. Das sieht aus wie ein Kabuki-Stück, kommt also der Ballett-Oper-Idee von 1914 recht nahe, allerdings agieren hier die Sänger selbst. 1. Akt, 2. Akt, 3. Akt. 2016 dirigiert Alain Altinoglu Le coq d'or in Bruxelles eine Inszenierung von Laurent Pelly mit Pavlo Hunka und Venera Gimadieva als Zarenpaar, das könne Sie hier sehen. 2017 nahm Valery Gergiev die Oper in das neugebaute Opernhaus Mariinski 2 auf, er ließ die bekannte russische Filmregisseurin Anna Matison inszenieren. Man findet die Inszenierung ganz leicht, wenn man den russischen Originaltitel eingibt (Золотой петушок). Es gibt da auch keine Untertitel, man ist also ganz auf sich gestellt. Hier der Link. Anna Matison inszeniert die Oper, wie wenn sie eine Folge von Game of Thrones wäre. Eine Rucksacktouristin gerät an einen verwunschenen Palast, heraus kommt der Astrologe. Der Rucksack hat die Form eines Hahns. Aida Garifullina trägt als Zarin von Schemacha die langen gelben Haare der Daenerys Targayen. Schließlich gibt es noch eine Inszenierung der New York City Opera. Dort hatte Beverly Sills die Partie der Zarin für sich entdeckt und Norman Treigle als Zar dazu geholt, Julius Rudel dirigiert, hier der Link.
Tonaufnahmen gibt es auch zu entdecken. Antonina Neshdanowa, die in der Aufführung am Bolschoi-Theater 1909 die Zarin von Schemacha sang, hat 1910 die Hymne an die Sonne aufgenommen, mit Blasorchester, wie das damals üblich war. 1951 dirigierte Alexander Gauk eine Studioaufführung des All-Unio-Radios, beste Sowjet-Kunst, hier zu hören.
Bis Mittwoch, das ist dann vorerst der letzte Abend. Der nächste Kurs beginnt am 10. Januar, es sind noch Plätze frei.
Ihr Curt A. Roesler
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