Wo holen sich die Librettisten ihre Stoffe? In der Gegenwart? In der Zeit der Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert? Im Mittelalter? In der Antike?
Für alles gibt es prominente Beispiele. Am Anfang der Operngeschichte vor über 400 Jahren gab es eine lange Zeit, in der Opern hauptsächlich in der Antike spielten, entweder mit antiken Mythen verbunden waren wie dem von Orpheus oder denen vom Trojanischen Krieg oder auch mit antiken Persönlichkeiten wie Nero. Nur die Opera buffa, die Musikalische Komödie, suchte sich Geschichten auch in der Gegenwart. Spätestens im 19. Jahrhundert richtete sich das Augenmerk mehr auf Stoffe, die im Mittelalter ihre erste Ausgestaltung erfuhren – Richard Wagner holte sich für alle seine Werke ab Tannhäuser und mit Ausnahme der in der frühen Neuzeit spielenden Meistersinger von Nürnberg seine Stoffe in anonymen Texten des deutschen und nordischen Mittelalters, z. B. bei Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach oder Konrad von Würzburg.
Und da sind wir schon bei Written on Skin. Die (manche sagen auch das) Herzmäre (bitte ohne »h«) von Konrad von Würzburg ist eine der frühesten Ausgestaltungen der pikardischen Legende vom »cœur mangé« dem »gegessenen Herzen«: Ein Troubadour, der die verehrte und leider anderswie verhairatete Dame nicht nur besungen hat, sondern auch in ihrer Kammer besuchte, wurde vom eifersüchtigen Gemahl getötet; das Herz setzte er seiner Gemahlin als Speise vor, sie aß es und wollte, nachdem sie erfahren hatte, aus was das Gericht bestand, nie wieder etwas essen; sie sprang deshalb aus dem Fenster. Es gibt sogar einen historisch bezeugten Troubadour, der mit der Geschichte in Verbindung gebracht wird, Guillem de Cabestany (12./13. Jh). Die Angebetete war nach seiner »vida« (so heißen deie Lebensgeschichten von Troubadouren männlichen wie weiblichen Geschlechts) eine Margarida oder eine Saurimonda. Natürlich ist das nur eine Legende, die historische Saurimonda trennte sich von ihrem Ehemann und verheiratete sich neu, und auch Cabestany überlebte das Abenteuer und nahm an der Seite von Peter II. von Aragon an der »Reconquista« Spaniens von den Almohaden teil.
Die Legende war aber nun in der Welt und taucht immer wieder auf in der Literatur. So zwei Mal in Giovanni Boccaccios Decamerone (hier die erste und hier die neunte Geschichte des vierten Tages). Konrad von Würzburg verbindet die Geschichte vom gegessenen Herzen mit einer anderen Legende, der des Troubadours Raoul de Coucy, auch der Kastellan von Coucy genannt: Der erwischte Troubadour wird auf den Kreuzzug geschickt, stirbt aber vor Liebeskummer, bevor er das Heilige Land erreicht. Seinem Knappen trägt er auf, sein nach dem Tod einbalsamiertes Herz der Angebeteten zu überbringen; der wird vom Ehemann abgefangen, der es dann wie in der ursprünglichen Legende kochen lässt und der Ehefrau zu essen gibt. Der echte Raoul de Coucy fiel im Kampf um Akkon 1191, es gibt aber noch einen anderen Coucy, der 1203 auf einer Überfahrt starb. Der könnte es vielleicht gewesen sein.
Die mittelalterlichen Romane die sich um den Kastellan von Coucy ranken, Roman du châtelain de Coucy et de la dame de Fayel und La Châtelaine de Vergi, bringen einen Namen für die angebetete Dame ins Spiel, Gabrielle de Vergi. Das lässt Opernfans aufhorchen. Gabriella di Vergy, das ist doch ein Operntitel! Von wem noch mal? Mercadante? Donizetti? Michele Carafa? Alles richtig! Nur Donizettis Gabriella di Vergy ist zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt worden (1826 komponiert und sofort verboten, 1869 in sehr veränderter Form uraufgefürt und erstmals 1978 in der ursprünglichen Form auf der Bühne, in Belfast!) und sollte nicht mit Gemma di Vergy verwechselt werden. Alle drei Opern (und noch eine vierte von Carlo Coccia mit dem Titel Fajello) gehen auf die Tragödie Gabrielle de Vergy von Dormont de Belloy (1727–1775) zurück, die dieser um 1770 schrieb, die aber vermutlich erst 1777 uraufgeführt wurde, erst nachdem Frierich Wilhelm Gotter (1746–1797) seine Übersetzung in Gotha zur Aufführung brachte. Zwei weitere Opern von 1810 und 1811, die gelegentlich mit dem Stoff in Verbindung gebracht werden, haben in Wahrheit nichts damit zu tun. In Raoul de Crequi von Giovanni Simone Mayr und Francesco Morlacchi wird die standhafte Liebe eines mittelalterlichen Edelfräuleins gefeiert, das sich weigert, statt des auf dem Kreuzzug verschollenen Verlobten einen anderen zu heiraten und mit der wundersamen Wiederkunft eben dieses belohnt wird.
Martin Crimp (*1956), der schon für die erste Oper George Benjamins (*1960), Into the Little Hill (uraufgeführt 2006 in Paris) das Libretto geschrieben hatte, geht mit Written to Skin zu der ursprünglichen Mord-Geschichte zurück. »The Protector«, so heißt der gehörnte Ehemann hier, folgt dem Rivalen in den Wald und ermordet ihn, zerlegt ihn und gibt das Herz seiner Frau zu essen. Was er ebensowenig wie sie weiß, ist dass »The Boy« ein Engel ist, der sich verwandelt hat und gar nicht sterben kann. Er kommt also wieder zum Finale und treibt »Agnès« mit der Aufdeckung des wahren Charakters des »Protectors« in den Selbstmord. Was hier aus der Kölner Inszenierung als »Final Scene« angeboten wird, ist denn keineswegs der Schluss der Oper, sondern der Moment, in dem »Agnès« gesagt bekommt, dass sie das Herz des »Boys« vorgesetzt bekommen hat – und das als mythische Anthropophagie begreift: sie hat nun den Geliebten in sich. Die Oper besteht aus drei Teilen mit 15 Szenen, dauert 90 Minuten und hat nur fünf Personen: neben »The Protector« und »Agnès« sind das drei »Angels«, die das Geschehen beobachten, aber auch eingreifen, indem sie sich in menschliche Wesen verwandeln. Den 1. Angel haben wir schon kennengelernt, er gibt sich als Buchillustrator und nimmt vom »Protector« den Auftrag einer sich selbst verherrlichenden Chronik an. Der 2. und 3. Angel erscheinen in der Handlung als »Marie« und »John«, Schwägerin und Schwager des »Protectors«. Sie bestärken ihn in seiner Eigensucht und treiben ihn in die Eifersucht. »Agnès« ist eine Analphabetin und der »Protector« sieht sie ausschließlich als seinen Besitz, er sagt sie sei ein Kind. Erst durch das Erlebnis mit dem »Boy« wird sie zur Frau. Es gibt viele Interpretationsmöglichkeiten. Die Musiksprache Benjamins ist zeitgenössisch und folgt dem Text detailgetreu. Glasharmonika und Bassgambe werden als ungewöhnliche Soloinstrumente an einigen Stellen eingesetzt, ansonsten ist es ein nicht besonders großes Orchester, kein Chor – was für die Theater angenehm ist und sicher eine positive Wirkung auf die Zahl der Aufführungen hat. Die Musik wird gelegentlich mit Wozzeck von Alban Berg berglichen, obwohl das rein technische daran ganz woanders zu verorten ist (Benjamin war Schüler von Olivier Messiaen und Alexander Goehr, und das hört man).
Die Uraufführung 2012 in Aix-en-Provence erfolgte als Auftragswerk von nicht weniger als fünf Institutionen. Außer dem Festival in Aix waren das The Royal Opera House, Nederlandse Opera Amsterdam, Théâtre du Capitole de Toulouse und Teatro del Maggio Musicale Fiorentino. Hier das Werbevideo des Festivals 2012. Das Uraufführungsensemble (Christopher Purves – The Protector; Barbara Hannigan– Agnès; Bejun Mehta – First Angel / The Boy; Rebecca Jo Loeb – Second Angel / Mary; Allan Clayton – Third Angel / John) tourte mit dem Komponisten für konzertante Aufführungen durch Europa, so waren sie in Köln und Dortmund zu hören oder in Paris, manchmal mit dem Mahler Chamber Orchestra, für das Benjamin komponierte, manchmal auch mit anderen. Als Benjamin 2018 Composer in Residence bei der Elbphilharmonie war, holte er wieder das Mahler Chamber Orchestra für eine konzertante Aufführung; in der Besetzung war immerhin noch Bejun Mehta von der Uraufführung dabei.
Nicht nur die vier weiteren auftraggebenden Theater zeigten die Oper bald nach der Uraufführung, auch andere Theater brachten sie in eigenen Inszenierungen heraus, so Bonn, Detmold, St. Petersburg (halbszenisch), Wiener Festwochen, St. Gallen, Stockholm/Ulm, Philadelphia, Tokyo, Köln (wegen Corona ohne Publikum) und Bozen. Einige Theater kauften die Urauffühurngsproduktion ein, so Madrid und die Opéra Comique in Paris, wo das Rundfunkorchester begleitete. Eine
»Bootleg«-Tonaufnahme dieser Aufführung ist die einzige komplette
Aufführung, die auf YouTube zu finden ist, 1. Teil, 2. Teil, 3. Teil. Inklusive der fünf Aufführungen in der Deutschen Oper Berlin, wo ebenfalls die Uraufführungsinszenierung gezeigt wird, verzeichnet der Verlag 151 Aufführungen seit 2012. Ein beachtlicher Erfolg für eine zeitgenössische Oper!
Auf einen Ausschnitt aus der Kölner Inszenierung weise ich weiter oben hin. Jetzt kommt noch Stockholm: Hier Ausschnitte aus dem 1. Teil (2. und 6. Szene) mit Bernhard Landauer, der schon in Detmold gesungen hatte als »The Boy«; dieser Trailer, ebenfalls von der Royal Swedish Opera, schneidet Ausschnitte aus der 14., 4., 5. und 6. Szene hintereinander (habe ich noch etwas übersehen?).
Dann also bis Mittwoch,
Ihr Curt A. Roesler
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