Sonntag, 18. September 2022

Antonio Vivaldi: Il Giustino

Am letten Mittwoch haben wir uns auf die Themen der nächsten beiden Abende geeinigt: am 21. September geht es um Il Giustino von Antonio Vivaldi und am 28. September wollen wir uns mit zwei italienischen Werken des 20. Jahrhunderts befassen, Intolleranza 1960 von Luigi Nono und Experimentum mundi von Giorgio Battistelli.

Den Stoff zu Il Giustino fanden Vivaldi, sein anonymer Librettist und sein Auftraggeber in der Geschichte der Spätantike, bzw. in einem seit 1683 schon mehrfach vertonten Libretto von Niccolò Beregan. Das gleiche Libretto verwandte übrigens 13 Jahre später auch Georg Friedrich Händel für seinen Giustino. Während Händels Giustino schon seit 1963 gelegentlich wenigstens konzertant aufgeführt wurde, kam Il Giustino von Vivaldi erstmals 1985 wieder zur Aufführung. Der Vivaldi-Spezialist Alan Curtis (Herausgeber und Dirigent) brachte die Oper in Versailles und im Teatro Olimpico in Vicenza in einer Inszenierung von Maryse Flach heraus. Fast zur gleichen Zeit inszenierte Harry Kupfer an der Komischen Oper Berlin die Oper von Händel mit Jochen Kowalski in der Titelrolle. Die Partituren von Händels Opern lagen schon in der alten Händel-Ausgabe von Friedrich Chrysander vor, der Band 88 mit Giustino war 1883 erschienen. Von Vivaldis Opern hingegen gab es keine gedruckten Partituren bis vor nicht allzulanger Zeit. Il Giustino kam als eine der ersten kritischen Neuausgaben 1991 heraus. Alan Curtis musste sich also noch selbst ein Aufführungsmaterial nach dem Manuskript herstellen. Für die CD-Aufnahme konnte er dann 2002 allerdings auf die Neuausgabe von Ricordi zurückgreifen. Die CD ist auch heute noch im Handel und so können Sie sie beim Streaminganbieter Ihrer Wahl (Spotify, Deezer etc.) bzw. in der Naxos Music Library (kostenlos, wenn Sie einen Ausweis von den Berliner Öffentlichen Bibliotheken – AGB, Stadtbibliotherk etc. – haben) hören. Natürlich ist sie auch bei YouTube zu finden (Il Giustino); die Tonqualität ist allerdings bei den Streaminganbietern besser, wenn auch nicht so gut wie auf der CD. 

Vivaldi sprach selbst in einem Brief 1739 davon, dass er 96 Opern »gemacht« habe. Da er aber nicht nur als Komponist, sondern auch als Impresario tätig war, müssen sich darunter auch Werke befunden haben, zu denen er selbst keine Musik beigetragen hatte. Das offizielle Werkverzeichnis nennt 50 szenische Vokalwerke, wovon 49 den Untertitel »dramma per musica« tragen, also das sind, was wir heute »opere serie« nennen. Darunter sind auch Werke, zu denen Vivaldi nur einzene Arien oder einzelne Akte geschrieben hat, und eine ganze Reihe von Werken, deren Musik nicht erhalten ist. Es gibt knapp 20 Opern mit Musik ausschließlich von Vivaldi, die heute aufführbar sind; eine von den lange verloren geglaubten ist Argippo von 1730, die 2006 im Archiv der Thurn und Taxis aufgefunden und 2008 erstmals wieder aufgeführt wurde. Vivaldi hat drei Texte des berühmtesten Librettisten seiner Zeit, Pietro Metastasio, vertont: L'olimpiade, Demetrio und Catone in Utica. Für ein ebenfalls sehr berühmtes Libretto seiner Zeit, Griselda von Apostolo Zeno, holte er sich Hilfe von Carlo Goldoni, der ihm auch einen eigenen Text zur Verfügung stellte, Aristide; das ist aber eine Oper, die nicht erhalten ist und von der es auch Zweifel gibt, ob sie überhaupt authentisch sei. Wie alle Barockkomponisten (und auch noch einige im 19. Jahrhundert) komponierte Vivaldi nicht jedesmal ein komplett neues Werk, sondern übernahm bewährte Arien oder Instrumentalstücke aus früheren Kompositionen. Und was Il Giustino betrifft, so kennen Sie alle zumindest die Auftrittsmusik für die Göttin Fortuna im ersten Akt. Es handelt sich nämlich um den Anfang des »Frühlings« aus I quattro stagioni. Zu 29 der insgesamt 46 musikalischen Nummern haben die Herausgeber Entsprechungen in früheren Opern von Vivaldi gefunden; dabei sind nicht immer komplette Arien übernommen worden, sondern manchmal auch nur Teile daraus. Und vor allem sind längst nicht alle ursprünglichen Nummern erhalten. So ist etwa Tieteberga, eine der frühesten Opern von Vivaldi aus dem Jahr 1717, aus der die meisten Selbstzitate stammen, nicht erhalten.

Wer im Geschichtsunterricht gut aufgepasst hat, hat vermutlich trotzdem noch nie etwas von dem oströmischen Kaiser Justin I. gehört, der von 518 bis 527 regierte; eher schon von seinem Neffen und Nachfolger Justinian I., über den es auch bedeutend mehr Literstur gibt. Die Barockautoren waren vor allem davon fasziniert, dass Justin I. keineswegs an einem Herrscherhof aufgewachsen ist, sondern als Bauernsohn aufwuchs und erst mit 20 Jahren in die Hauptstadt des oströmischen Reiches kam, sich dann in der Armee bis zum General und Admiral hocharbeitete und schließlich vom Kaiser Anastasius zu seinem Nachfolger erkoren wurde. Daraus lässt sich ein wunderbares Opernlibretto schmieden, das von der Bühnentechnik reichlich Gebrauch macht. Abweichend von den Prinzipien Metastasios und anderer »Reform«-Librettisten jener Zeit, wird die Einheit des Ortes und der Zeit dabei nicht eingehalten, denn im ersten Akt sind wir bei der Heirat und Thronbesteigung des Vorgängers Anastasius in Konstantinopel zugegen (AD 491), bevor wir Justin selbst als Bauer in Serbien kennenlernen (AD 470), der von Fortuna – hergebracht in einem Flugapparat – zu seinem Schicksal berufen wird. Erst dann kehren wir wieder nach Konstantinopel zurück und verfolgen den weiteren Weg Justins (bis AD 518).

Vivaldi war 1723 und 1724 zwei Mal in Rom, dabei ist er auch einmal als Violinvirtuose vor dem Papst aufgetreten, es ist aber nicht überliefert, ob es bei Innozenz XIII. oder bei Benedikt XIII. war, denn 1724 starb Innozenz XIII. genau in der Zeit, als Vivaldi sich wegen Il Giustino in Rom aufhielt. Die Besonderheit der Opernaufführungen in Rom bestand darin, dass nur Männer auftreten durften, also auch die weiblichen Partien wurden von Männern gesungen. Die Oper ist für Tenöre und Kastraten geschrieben. Kastraten sangen also nicht nur die männlichen Heldenpartien, sondern auch die weiblichen Pariten. Die Tenöre waren für Nebenpartien und für Bösewichte (sofern es solche in der »opera seria« überhaupt gibt) vorgesehen. Dass die Heldenpartien von den Kastraten auf die Tenöre übergingen, ereignete sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts.

Vivaldi gehörte zu den »modernen« Komponisten der Zeit, wurde dementsprechend von Traditionalisten angegriffen, etwa von Francesco Gasparini (er schrieb 1705 Ambleto, eine Oper nach Shakespeares Hamlet), der ihn nur il Naso nennt. Wenn man die Karikatur von Pier Leone Ghezzi anschaut, versteht man, warum. Vivaldi hatte offenbar wirklich eine markante Nase. Allerdings hat Gasparini aus Ghezzis Sicht auch eine herausragende Nase. Die neueren Komponisten (Nicola Porpora oder Johann Adolph Hasse z. B.) machten sich die Virtuosität der Kastraten zunutze und fügten unendliche Koloraturen in ihre Kompositionen ein, mit denen die Sänger brillieren konnten, aber sie ließen Musik auch deutlicher »sprechen« als die älteren – und darin war Vivaldi ein Meister, siehe I quattro stagioni. Was aber für Rom ganz neu war und 1723 von Vivaldi eingeführt wurde, ist der »lombardische« Rhythmus. Er gibt der Musik einen besonderen »Swing« wie man heute sagen würde. Er besteht in der Umkehrung eines punktierten Rhytmus, d. h. die kurze Note kommt zuerst und auf den Schlag, die lange Note hängt daran. In Il Giustino verwendet ihn Vivaldi in der Variante, dass auf den Schlag zwei kurze Noten kommen, so in der Arie der Arianna »Dalle Gioie del core« im 2. Akt.

Mehr dazu am nächsten Mittwoch in der Alten Feuerwache in Zehendorf,
Ihr Curt A. Roesler

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