Dienstag, 7. November 2023

Gaetano Donizetti: Anna Bolena

Heinrich VIII. und seine sechs Eherauen – Stoff für unzählige Romane, Theaterstücke, Filme. Das Interesse fokussiert sich dabei auf die zweite, Anne Boleyn, die Mutter Elizabeth I., die 1536 enthauptet wurde, weil sie dem König, der bereits eine neue Favoritin hatte, keinen männlichen Nachkommen gebar – offiziell natürlich nicht deswegen, sondern wegen einer konstruierten und durch Folter bezeugten Liebesaffäre. Am Hof der Tudors wurde viel musiziert und gedichtet. Ein Songbook, das Henry VIII. zugeschrieben wird, ist bereits mehrfach von Spezialensmbles auf CD aufgenommen worden, hier die Aufnahme des St. Georges's Canzona. Nicht enthalten ist darin ein Lied, das möglicherweise als Liebeslied für Anna Boleyn entstand, »Whereto shourld I express«, wir haben es hier vom Isaak Ensemble, Heidelberg, ausgeführt. 

Pedro Calderón de la Barca (1600–1680), als spanischer Hofdichter Nachfolger von Lope de Vega (1562–1635), der ebenfalls viele Stoffe, die auf der Opernbühne wichrtig wurden, erstmals bearbeitete, schrieb 1627 La Cisma de Inglaterra. Hier geht es äußerlich vor allem um die Abspaltung der anglikanischen Kirche aus Anlaß der Scheidung Heinrichs von Katharina von Aragon, aber die Moritat endet mit dem Tod Annas (und der Unbelehrbarkeit Heinrichs). Auf dieser Tragödie basiert Camille Saint-Saens' Oper Henry VIII. (1883), die auch Renaissance-Musik zitiert. Der englische Dramatiker John Banks (manchmal auch Bankes, 1650–1706) schrieb 1692 Vertue Betrayd or Anne Bullen, eine »Tragedy«, die sehr populär wurde – Aufführungen sind bis 1766 bezeugt. Paul W. Weidmann (1746–1810), Librettist eines der beliebtesten Wiener Singspiele, Die Bergknappen (1778, Musik von Ignaz Umlauf, 1746–1796), schrieb 1771 das Trauerspiel Anna Boulen. 1791 kam im Théâtre de la République in Paris Henri VIII. von Marie-Joseph Chénier, dem Bruder des Lyrikers André Chénier, heraus, die Vorlage für Felice Romanis Libretto Anna Bolena 1830. Ob Alessandro Pepoli (1757–1796, nicht zu verwechseln mit Carlo Pepoli, dem Librettisten von I puritani) seine Tragödie Anna Bolena als Libretto für Giovanni Paisiello oder einen anderen Komponisten schrieb, scheint nicht so ganz klar zu sein. Dieser Text jedenfalls stand Romani auch als Vorlage zur Verfügung. In Leipzig wurde 1832 ein Trauerspiel König Heinrich VIII. und Anna Boleyn gedruckt. Verfasser ist ein sonst nicht bekannter Eduard Marschner (vermutlich nicht verwandt mit den Komponisten Heinrich und Paul Eduard Marschner).

Im 19. Jahrhudert gab es noch einige wenige, weniger bedeutende Dramen um Anne Boleyn, doch im 20. Jahrhundert nimmt das Interesse wieder zu, jetzt aber im Film. Ein Kurzfilm Henry VIII. entstand 1911 Anne de Boleyn 1914; in beiden spielte Laura Cowie Anne. Ernst Lubitsch drehte 1920 mit 28 Jahren seinen 33. Stummfilm Anna Boleyn als Regisseur mit Emil Jannings und Henny Porten als Heinrich VIII. und Anna, hier mit ziemlich nerviger Computermusikbegleitung. In die Tonfilm-Ära kommen wir 1933 mit The Private Life Of Henry VIII. von Alexander Korda mit Charles Laughton als König und Merle Oberon als Anne. Seither bleibt das Thema auf der Leinwand und auf dem Bildschirm relevant, gerade in letzte Zeit sind mehrere Serien erschienen und gerade hat Amazon einen Dokumentarfilm von Rebekah Llewelyn veröffentlicht, Anne Boleyn: A Queen condemned.

Nun aber zu Donizetti: In den letzten Jahren haben die Marketing-Abteilungen größerer Opernhäuser eine »Tudor-Trilogie« von Donizetti ausgemacht, bestehend aus Anna Bolena (1830), Maria Stuarda (1835) und Roberto Devereux (1837). Die erste Oper mit einem Tudor-Stoff, die Donizetti schrieb, wird dabei seltsamerweise ausgelassen. Il castello di Kenilworth (später: Elisabetta al castello di Kenilworth) könnte man freilich auch in eine andere »Serie« stecken, eine Serie nach Sir Walter Scott, zu der dann wenigstens auch Lucia di Lammermoor gehören würde. 2018 wurde Il castello di Kenilworth beim Donizetti Festival in Bergamo aufgeführt, davon gibt es Aufnahmen auf Blu-Ray, DVD und nur den Ton auf CD mit Jessica Pratt und Stefan Pop unter der Leitung von Riccardo Frizza. Schon 1989 hat RAI Milano die Oper unter der Leitung von Jan Latham-Koenig produziert (mit  Mariella Devia [Elisabetta], Denia Mazzola-Gavazzeni [Amelia Robsart], Jozef Kundlák [Leicester], Barry Anderson [Warney], Carlo Striuli [Lambourne], Clara Foti [Fanny]), das gibt es hier bei YouTube. Davor gab es lediglich eine »Opera Rara-Aufnahme vom Camden-Festival 1977 unter dem in Berlin auch bekannten Alun Francis mit Janet Price und Maurice Arthur, die es natürlich bei YouTube auch gibt. Das war damals eine »Ausgrabung«. 

Die Wiederentdeckung der Anna Bolena, die lange Zeit als eines der Hauptwerke Donizettis galt, aber ab etwa 1880 in Vergessenheit geriet, liegt etwas weiter zurück: 1956 erinnerte sich die Gebhurtsstadt Bergamo der Oper und brachte sie heraus, was dann wiederum die Leitung der Mailänder Scala auf den Plan rief, die nach neuen Rollen für Maria Callas suchte. Am 14. April 1957 kam Anna Bolena in der Regie von Luchino Visconti heraus, Gianandrea Gavazzeni dirigierte und außer Callas sangen Giulietta Simionato (Giovanna), Nicola Rossi-Lemeni (Enrico), Gianni Raimondi (Percy). Seltsamerweise war das für die Schallplattenindustrie nicht interessant genug, erst viel später kam der Rundfunkmitschnitt mit vielen Nebengeräuschen auf LP in Umlauf, ist mehrmals aufbereitet worden und ist auch jetzt als CD verfügbar (und bei Spotify & Co.), hier mit Klavierauszug zum Mitlesen bei YouTube. Im Jahr darauf dirigierte Charles Mackerras Anna Bolena in Wexford und nach und nach fügte sich die Oper in das internationale Repertoire ein. RAI Milano produzierte die Oper im Folgejahr ebenfalls mit Gavazzeni, aber ohne Callas, hier singt Leyla Gencer die Titelpartie, Giulietta Simionata sang wieder Giovanna und es kamen der Bass Plinio Cabassi statt Rossi Lemeni und der Tenor Aldo Bertocci statt Raimondi dazu. Auch das gibt es bei YouTube zu hören. 1965 sang Leyla Gencer die Partie in Glyndebourne, wo Gavazzeni wiederum dirigierte. 

Bis zur ersten kommerziellen Schallplattenaufnahme sollte es noch ein wenig dauern. Erst 1969 entschloß sich Decca dazu, Silvio Varviso, der im gleichen Jahr sein Bayreuth-Debüt feierte, dirigierte. Die Bühnenkarriere der Callas war nun schon vorbei, aber eine andere griechische Sängerin hatte von sich reden gemacht, Elena Suliotis. Sie hatte 1966 an der Scala Abigaille in Nabucco gesungen, nachdem sie die Partie schon auf Schallplatte eingespielt hatte, und in der Carnegie Hall die Titelpartie in Anna Bolena. Die Giovanna aus der New Yorker Konzertaufführung kam mit in die Wiener Aufnahmestudios, Marilyn Horne, nicht aber Percy, Placido Domingo. Statt seiner sang nun John Alexander – kein schlechter Sänger, aber in dieser Aufnahme eher ein Minuspunkt. Statt Carlo Cava als Enrico kam in Wien Nicolai Ghiaurov bei der Ersteinspielung von Anna Bolena zum Einsatz. Mit mehr als drei Stunden und sechs Minuten, ist das nun schon eine sehr vollständige Aufnahme der Oper. Die konzertante Aufführung aus der Carnegie Hall 1966 können Sie zum Vergleich hier hören.

Was fallen Ihnen jetzt noch für Diven des 20. Jahrhundets ein, die ihre Interpretation der Anna ebenfalls auf Schallplatte festhalten sollten? Richtig: Beverly Sills und Joan Sutherland. HMV und Decca folgten dem Ruf 1972 und 1987. Beverly Sills ging mit Shirley Verrett, Paul Plishka und Stuart Burrows ins Studio, es dirigierte Julius Rudel, hier. »La stupenda« Sutherland wurde selbstverständlich von Ehemann Richard Bonynge begleitet und es sangen an ihrer Seite Susan Mentzer, Samuel Ramey und Jerry Hadley, hier.

Neuere Aufnahmen gibt es vor allem auf DVD / Blu-ray. Das Bergamo Festival macht den Anfang 2006 mit weitgehend unbekannten Sängerinnen und Sängern (Dimitra Theodossiu, Sofia Soloviy, Riccardo Zanellato, Gian Luca Pasolini); 2011 kommt dann die Wiener Staatsoper mit Anna Netrebko, Elīna Garanča, Ildebrando d‘Arcangelo und Francesco Meli. Das kann man sich aus acht Einzelteilen auf YouTube zusammensuchen. Und 2013 folgt eine Aufführung aus Rieti mit Kräften der Opera di Roma. Auch das kann man finden. Interessanter für Opernfans dürfte vielleicht eine Aufführung aus Barcelona 2011 mit Edita Gruberova, Elīna Garanča, Carlo Colombara und Josep Bros sein, die es hier zu sehen gibt, das ist allerdings nur eine hausinterne Aufnahme mit einer Kamera, die weder bewegt wird noch Zooms auf einzelne SängerInnen ausführt. Oder Bregenz 1986, eine Inszenierung von Gian-Carlo del Monaco mit Katia Ricciarelli, Stefania Toczyska, Jewgeni Nesterenko, Francisco Araiza, Elena Zilio, hier (vom Fernseher abgefilmt). 

 Und der Rest der »Trilogie«? Auch Maria Stuarda musste erst wiedeer entdeckt werden, und auch hier machte Bergamo den Anfang, 1958. Das war aber wohl nichts für Maria Callas – wie auch? Man steht als Verliererin auf der Bühne, Elizabeth I. (Mezzosopran) triumphiert. Nicht einmal Norma wird so gedemütigt. Aber dass Elizabeth, die man aus zahlreichen anderen Opern als Sopran-Primadonna kennt, hier der Mezzo ist, daran muss man sich auch als Operngänger gewöhnen. Ein weiterer Versuch zur Wiederbelebung wurde 1962 in Stuttgart gemacht, ebenfalls ohne nachhaltigen Erfolg. In Deutschland kommt erschwerend dazu, dass die Regisseure Schiller inszenieren wollen, was dann aber nicht so ganz zu den Worten passt, ich selbst habe in den 80er Jahren noch einmal einen Auftrag für eine Neuübersetzung bekommen mit dem Hinweis, es sollte so viel wie möglich von Schiller hineinkommen – geht nicht, musste ich sagen. Bald danach hatte sich das dann auch erledigt mit deutschsprachigen Aufführungen italienischer Belcantoopern. Beverly Sills und Joan Sutherland waren es dann aber, die 1971 bzw. 1975 der Maria ihre Stimme gaben, Sills zusammen mit Eileen Farrell, Stuart Burrows und Louis Quilico unter Aldo Ceccato, hier. Die Aufnahme mit Sutherland muss man sich auch Einzelteilen zusammensuchen (oder bei Naxos, Spotify etc. hören), es singen Huguette Tourangeau, Luciano Pavarotti und Roger Soyer unter der Leitung von Richard Bonynge. Oder man lässt sich auf den Film von Petr Weigl ein, der Schiller mit Ausschnitten aus der Opernaufnahme kombiniert: hier. Oder man nimmt eine EBU-Tonübertragung aus Las Palmas von 1975 mit Tourangeau und Sutherland. Wer auch etwas sehen will: hier gibt es eine Met-Aufführung von 2013 mit portugiesischen Untertiteln, inszeniert von David McVicar, dirigiert von Maurizio Benini, Joyce DiDonato singt Maria, Elza van den Heever Elisabetta.

Als dritte »Tudor-Oper« wurde Roberto Devereux 1961 in Bergamo wiederentdeckt. Das war nun wahrlich zu spät für Maria Callas, dafür brillierte Leyla Gencer 1964 in Neapel als Elisabetta in dieser Oper, Montserrat Caballé sang sie 1965 konzertant in New York und dort kam sie 1970 an der New York City Opera mit Beverly Sills und Placido Domingo heraus, nachdem schon im Vorjahr in London die erste kommerzielle Tonaufnahme gemacht worden war: Beverly Sills, Robert Ilosfaslvy, Peter Glossop, Beverly Wolff, unter dem Dirigat von Charles Mackerras, hier.

Also dann, bis morgen, Mittwoch,
Ihr Curt A. Roesler

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