Dienstag, 28. März 2023

Herodias und Salome

Die Opern Hérodiade von Jules Massenet und Salome von Richard Strauss haben die gleiche Quelle: Die Erzählung Herodias von Gustave Flaubert, veröffentlicht in den Trois contes 1877 und natürlich basierend auf den Berichten aus dem Neuen Testament und von Flavius Josephus. Bei Strauss nahm der Stoff noch einen Umweg über Oscar Wilde, dessen Salomé 1894 in Frankreich veröffentlicht und 1895 ins Englische übersetzt wurde. Strauss verwendete eine Übersetzung aus dem Englischen. Salome haben vermutlich alle schon auf der Bühne gesehen, die sich überhaupt für Oper interessieren; wer die letzten 40 Jahre regelmäßiger Besucher der Deutschen Oper Berlin war, konnte drei verschiedene Inszenierungen sehen: die legendäre von Wieland Wagner aus den 60er Jahren wurde von Götz Friedrich in den 80ern erneuert, in der kurzen Zeit der Intendanz von Udo Zimmermann Anfang dieses Jahrtausends gab es eine Neuinterpretation durch Achim Freyer und aktuell steht eine Produktion von Claus Guth auf dem Spielplan. Und auch an den anderen Berliner Opernhäusern steht die Oper regelmäßig auf dem Spielplan. Hérodiade hingegen wurde bisher in Berlin noch nicht szenisch aufgeführt soweit mir bekannt. Die deutsche Erstaufführng war 1883 in Hamburg, noch die dreiaktige, 1881 in Brüssel uraufgeführte Fassung, danach geriet das Werk trotz großer internationaler Erfolge und trotz berühmter Sängerinnen und Sänger, die sich für das Werk einsetzten, in Deutschland in Vergessenheit; nach dem Sensationserfolg für Strauss mit Salome in Dresden gab es wohl keinen Platz mehr für das Werk eines Komponisten, der inzwischen seinerseits erfolgreichere Opern hervorgebracht hatte wie Manon und Werther.

Hérodiade ist ganz anders als Salome. Und das liegt nicht nur daran, dass eine ganze Generation zwischen den beiden Opern liegt. Hérodiade ist eher rückwärtsgewandt, was nicht heißen soll, dass sie 1881 nicht zeitgemäß gewesen wäre, und Salome ist eher zukunftsorientiet, was auch nicht heißen soll, dass sie unbeeinflußt wäre von der Opernästhetik des 19. Jahrhunderts und insbesondere von Richard Wagner. Beide Partituren beziehen für ihre Zeit modernste Instumente ein, bei Massenet sind es zwei Saxophone (einem Saxophon sind wir auch in Hamlet von Ambroise Thomas begegnet und legendär ist das Saxophon in Werther, das in der Deutschen Oper Berlin auch auf der Bühne zu bestaunen war), bei Strauss ist es ein Heckelphon, eine Bass-Oboe, für die es bis heute nur sehr wenige Einsatzfelder gibt. Beide reiten auf einer im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts aufgetürmten Welle des »Exotismus« und beide profitieren in gewisser Weise von der Sensationslust einer bigotten Gesellschaft, die darum ringt, Kirche und Staat in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Der Erzbischof von Lyon wollte vom Papst die Exkommunikation Massenets erwirken, Strauss musste mit den Zensoren in Deutschland und Österreich um jedes einzelne Wort im Text ringen.

Beide Opern erreichen ihren Höhepunkt mit der (außerhalb der Bühne vollzogenen) Enthauptung Johannes des Täufers. Wie es zu seiner Verurteilung und zur Vollsterckung des Todesurteils kommt, wird allerdings ganz verschieden erzählt. Während bei Strauss der Tanz der Salome im Mittelpunkt steht, für den sie – so wie es auch aus der Bibel zu entnehmen ist, in der sie allerdings keinen Namen hat, sondern nur als Tochter der Herodias genannt wird – als Lohn, angestiftet von ihrer Mutter, den Kopf des Propheten fordert, will Salomé bei Massenet die Hinrichtung Johannes' im letzten Moment verhindern, kommt aber zu spät und bringt sich selbst um, als sie erkennt, dass Herodias ihre Mutter ist und hinter allem steckt. Obwohl Massenet sehr viel Ballettmusik für Hérodiade geschrieben hat – für den 2., 3. und 4. Akt der endgültigen Fassung –, gibt es keinen »Tanz der sieben Schleier«. Babylonische Sklaven und Sklavinnen tanzen im Palast des Herodes, Tempeltänzer und Tempeltänzerinnen eine »Danza sacra« im Tempel in Jerusalem (!), und zur Feier der römischen Eroberer wird auch am Schluss noch einmal getanzt. Warum »Danza sacra« und nicht »Danse sacré«? Das hängt mit dem Kompositionsauftrag und der Abfolge der ersten Aufführungen zusammen.

Im Herbst 1877 war Massenet beim italienischen Verleger Giulio Ricordi in dessen Landgut am Comersee zu Gast. Man besprach die weltweite Kampagne der Oper Le roi de Lahore, die im April als erstes Werk des Komponisten an der Pariser Opéra aufgeführt worden war. Dabei kam wohl auch die Idee, einer Uraufführung an der Mailander Scala (Ricordis Stammhaus) auf. Im Jahr darauf brachte ihn sein französischer Verleger Georges Hartmann mit dem Schriftsteller Paul Milliet zusammen, bereits mit der Idee die soeben erst veröffentlichte Novelle Hérodias aus den Trois contes von Gustave Flaubert als Opernsujet zu verwenden. Massenet und Milliet arbeiteten daran in der Annahme, es könne zu einer gemeinsamen Uraufführung an der Opéra in Paris und der Scala in Mailand kommen. Doch die Opéra zog sich aus dem Projekt zurück, zu frivol. Mit Mailand kam ein Vertrag zustande, aber die Vorbereitungen verzögerten sich, so dass Hérodiade schließlich am 19. Dezember 1881 im Théâtre de la Monnaie in Brüssel zur Uraufführung kam. Sonderzüge fuhren aus Paris zu diesem Ereignis. In Mailand kam Erodiade in der Übersetzung von Angelo Zanardini zwei Monate später, am 23. Februar 1882 heraus. Diese erste Fassung des Werks war in drei Akte und fünf Bilder aufgeteilt. Die Opéra in Paris war nach wie vor skeptisch, aber der Direktor des Théâtre-Italien interessierte sich dafür, denn es gab eine interessante Rolle für ihn in der Oper. Der Direktor des Théâtre-Italien war zu dieser Zeit der berühmte Bariton Victor Maurel, für den Giuseppe Verdi später den Iago in Otello und die Titelrolle in Falstaff komponieren sollte. Für diese Aufführung arbeitete Massenet seine Partitur um, und zwar die italienische Fassung, denn nach wie vor wurde im Théâtre-Italien italienisch gesungen. Die endgültige Fassung (und nur die wird heute eigentlich gespielt, allerdings in französischer Sprache) umfasst vier Akte und sieben Bilder. In wissenschaftlichen Texten über Massenets Opern heißt das Werk, mit dem wir uns nun befassen, daher Erodiade ohne das französische »H« am Anfang, und die Hauptrollen sind Erode, Erodiade, Iokanna, Salomé (ja, auch im italienischen hat sie einen Akzent) und Fanuele. Im Folgenden nehmen wir aber die französischen Namen, wie es auch die Deutsche Oper Berlin in ihren Ankündigungen tut.

Salomé und Jean sind bei Milliet und Massenet ganz anders gezeichnet als bei Oscar Wilde und Strauss. Salomé ist kein Teenager und ganz und gar nicht unter der Fuchtel ihrer Mutter. Sie wurde von Hérodiade (das ist eine Detail, das nicht in der Bibel steht) in Rom zurückgelassen, als sie ihren ersten Gatten, den Halbbruder des Hérode, für diesen verließ. Am Beginn der Oper kommt Salomé auf der Suche nach ihrer Herkunft nach Jerusalem. Erst am Ende erkennt sie, wie schon erwähnt, dass Hérodiade ihre Mutter ist. Sie liebt Jean und will mit ihm sterben. Die beiden (Sopran und Tenor) haben zwei große Duette: im 1. Akt, wo sie ihn im Hof des Palastes anspricht (hier mit Cheryl Studer und Ben Heppner in einer CD-Aufnahme aus Toulouse unter Michel Plasson) und im 4. Akt, wo sie sich in seinen Kerker schleicht (hier mit Michelle Bris und Guy Chauvet in einer Rundfunkaufnahme von 1961). Ob Jean ihr wirklich körperlich nachgibt, wird nicht ausgesprochen, aber in der Mitte des 2. Duetts singen sie beide »Je t'aime« und Jean fühlt sich schuldig, obwohl er Salomé nahelegt, ihm in Keuschheit zu folgen.

Auch Hérode und Hérodiade entsprechen nicht dem Bild, das wir aus Strauss' Salome von ihnen haben. Es sind keine Karikaturen, sondern, nun ja, Opernfiguren. Eine der berühmtesten Melodien Massenets singt Hérode im 2. Akt: »Vision fugitive« (hier gesungen von Simon Keenlyside, stellvertretend für Generationen von Baritonen): er hat ein Traumbild, eine junge Frau, von der er nicht weiß, dass es Salome, seine Stieftochter ist, benebelt seine Sinne. Hérodiade hat keine eigene Arie. Was man gelegentlich als Solo hört, ist die Einleitung zum Terzett mit Hérode und Phanuel aus dem ersten Akt, ihr Auftritt, in dem sie den Kopf Jeans verlangt, des Propheten, der sie und Hérode bereits verflucht hat und dies im Laufe der Oper noch einmal tun wird (hier von Elīna Garanča auf einer Solo-CD gesungen unter Weglassung der Partie des Hérode; und hier gesungen von Rita Gorr mit den Zwischenrufen von Michel Dens). Hérode schwankt hin und her, zwar fürchtet er auch den Fluch des Propheten, aber andererseits sucht er auch die Möglichkeit, mit seiner Hilfe das Volk gegen die Römer aufzustacheln. Für das Todesurteil entscheidet er sich in dem Moment am Ende seines Duetts mit Salomé im 3. Akt, wo er erfährt, dass Jean der »Stärkere« ist, der ihr Herz gewinnen konnte. Nach weiteren Verzögerungen durch die inzwischen erfolgte Machtübernahme der Römer, lässt er am Ende des 3. Aktes Salomé und Jean zum Tode verurteilen. Salomé allerdings wird im 4. Akt begnadigt.

Hérodiade hat noch zwei weitere Hauptpartien, Phanuel und Vitellius. Letzterer ist der römische Feldherr, der Hérodes' Macht beschneidet, mit dem zusammen er sich aber trotzdem vom Volk feiern lässt. Phanuel ist ein Wahrsager, von dem Hérodiade sich die Zukunft deuten lässt und der als erster andeutet, dass die fremde Schönheit, der Hérode nachstellt, ihre Tochter Salomé ist. Außerdem spielt er als Berater Hérodes' in der Auseinandersetzung mit den Römern eine Rolle. Seine große Arie gilt der von Unmoral bedrohten Stadt Jerusalem, »Dors ô cité perverse«, wir hören sie hier gesungen von José van Dam, der viele Jahre regelmäßig an der Deutschen Oper Berlin gesungen hat; Auch dies ist ein Ausschnitt aus der Gesamtaufnahme mit Michel Plasson.

Die am weitesten verbreitete Melodie aus Hérodiade ist Salomés »Il est doux, il est bon« vom Anfang des 1. Aktes, wo sie auf der Suche nach Jean, aber auch nach ihrer Herkunft ist. Die Aufnahmen sind unzählig, fangn wir 1911 an mit Mary Garden, der Sängerin und Schauspielerin, für die Debussy die Partie der Melisande geschrieben hat. Ein Sopran-Superstar in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Maria Jeritza, diese Aufnahme stammt aus der Frühzeit der elektrischen Aufnahmen. Ob sie in der Oper von Massenet wirklich aufgetreten ist, konnte ich nicht herausfinden, aber Salome von Richard Strauss gehörte selbstverständlich zu ihrem Repertoire, noch 1936 hat sie sie in Wien gesungen, was z. T. auch vom Rundfunk aufgenommen wurde. Aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg habe ich Régine Crespin herausgesucht, eine Studioaufnahme von 1963. Und heute? Nehmen wir Sonya Yoncheva in einem Konzert in Zagreb 2017. Von Nicole Car ist noch keine Aufnahme zu finden, aber zusammen mit Etienne Dupuis ist sie 2019 an der Deutschen Oper in Eugen Onegin aufgetreten und hier gibt es eine Aufnahme vom Schluss der Oper mit der Handy-Kamera.

Wer bei YouTube nach einer szenischen Auffürhung sucht, findet kaum etwas. Es gibt einzelne Ausschnitte aus der Produktion der Wiener Staatsoper (Regie: Hermann Nitsch) und die Produktion die das Teatro del Liceu in Barcelona 1984 für Montserrat Caballé auf die Bühne gebracht hat. Unter der Leitung von Jacques Delacôte stehen an der Seite der Caballé José Carreras, Dunja Vejzovic, Juan Pons und Roderick Kennedy. Sehr dunkel alles und der Ton klingt wie aus einem 60er Jahre Fernseher. Als reine Tonaufnahme ist die schin mehrfach erwähnte von Michel Plasson mit Cheryl Studer, Nadine Denize, Ben Heppner, Thomas Hampson und José van Dam zu empfehlen, hier komplett. Und als Ergänzung vielleicht hier der Querschnitt aus der Opéra in Paris von 1963 mit Andréa Guiot, Rita Gorr, Albert Lance, Michel Dens und Jacques Mars.

Am Mittwoch sehen wir weiter, Ihr Curt A. Roesler.

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