Montag, 17. November 2025

Umberto Giordano

Nur eine Oper von Umberto Giordano hat sich so in das internationale Opernrepertoire eingefügt, dass man sofort auf ihren Titel kommt, wenn der Name des Komponisten fällt, Andrea Chénier. In Berlin allerdings auch nicht wirklich regelmäßig auf den Spielplänen, mit Ausnahme der Deutschen Oper Berlin, wo die über dreißig Jahre alte Inszenierung von John Dew noch gepflegt wird. Im Dezember wird sie drei allerletzte Aufführungen haben. Am 13. Dezember kann man übrigens zur gleichen Zeit eine Übertragung aus der Metropolitan Opera im Cinestar am Alexanderplatz oder in Tegel sehen. Dorthin können Sie Ihre Enkel nur mitnehmen, wenn die schon 6 Jahre alt sind, an der Deutschen Oper wird nicht kontrolliert, empfohlen sind aber 13 Jahre – und das scheint auch ganz vernünftig. An der Deutschen Oper singt Martin Muehle den Chénier, an der Met Piotr Beczala. In Andrea Chénier hat der Tenor zwei große Arien, »Un dì all'azzurro spazio« und »Come un bel dì di maggio«, in Fedora, die insgesamt auch kürzer ist, nur eine, »Amor ti vieta di non amar«, nebst ein paar anderen, noch kürzeren Soli. Die beiden Tenöre können vorher schon bei YouTube vergleichen, »Come un bel dì di maggio«, hier von Martin Muehle in Modena gesungen, und hier von Piotr Beczala bei der Oper Klassik Gala 2021 im Berliner Konzerthaus.

In Fedora präsentierte sich bei der Uraufführung 1898 ein junger Tenor, der sich in den letzten drei Jahren durch die Provinzbühnen gesungen hatte, bis er 1897 die Chance erhielt, am Teatro Lirico in Mailand eine Rolle zu kreieren, den Federico in L'Arlesiana von Francesco Cilea. In Fedora sang er nun den Loris Ipanoff. »Amor ti vieta« gehörte denn auch zu den ersten Schallplatten, die er 1902 für Gramophone and Typewriter aufnahm, hier zu hören. Und wenn wir schon am Vergleichen sind: sein etwas älterer und nicht weniger berühmter Zeitgenosse Fernando de Lucia hat die Arie ebenfalls 1902 aufgenommen und das klingt so. Fernando de Lucia hat bei mehreren Uraufführungen von Pietro Mascagni mitgewirkt, darunter 1898 in Iris. Obwohl Caruso auch beim Lehrer de Lucias gelernt hatte, sind die beiden sehr unterschiedlich. Mit Carusos Stimme verbindet man sofort die Dramatik Puccinis und der Komponisten seiner Generation, während de Lucia eher für die lyrischen Partien der französischen und italienischen Komponisten des 19. Jahrhunderts steht, wiewohl er auch in zeitgenössischen Opern auf der Bühne stand. 

Auch von der Fedora der Uraufführung, Gemma Bellincioni, gibt es ein Tondokument, »O grandi occhi lucenti di fede« aus dem 1. Akt, hier. Seit Carusos Zeiten haben zahlreiche Tenöre »Amor ti vieta di non amar« für die Schallplatte aufgenommen, sie ist kurz und dankbar für das Präsentieren des Tenorschmelzes. Auf YouTube finden Sie diesen Vergleich von zehn Aufnahmen. (Aber es gibt noch viel, viel mehr.) Sie dürfen mich gern am Mittwoch fragen, welches meine Lieblingseinspielung ist. Alle »Arien« in Fedora sind extrem kurz, unter drei Minuten. Auch der Bariton, de Siriex, Diplomat in russischen Diensten, hat seine Arie auf dem Fest Fedoras im 2. Akt, »La donna russa«, hier unvergleichlich gesungen von Tito Gobbi. Nicht aus der Gesamtaufnahme von 1969, sondern als Einzelaufnahme schon in den 50ern mit dem Orchester der römischen Oper unter Oliviero de Fabritiis aufgenommen.

Fedora ist neben Andrea Chénier die einzige Oper von Giordano, die ebenfalls seit der Uraufführung immer wieder gespielt wird. Und von der es seit 1931 zahlreiche Schallplattenaufnahmen gibt. In der ersten sang Gilda dalla Rizza, die Titelpartie. Wir haben von ihr gesprochen im Zusammenhang mit La rondine von Giacomo Puccini, wo sie in der Uraufführung sang. Puccini hat für sie die Partie der Liù in Turandot geschrieben und schätzte sie als Minnie in La fanciulla del West. Der Tenor in dieser Schallplattenaufnahme ist Antonio Melandri, der Bariton Emilio Ghirardini. Die Sammlung von 78er Platten wurde in den 50er Jahren auf LPs übertragen, die ich in meinem Schrank als einen Schatz hüte. Eine CD-Version ist leider derzeit nicht lieferbar, dementsprechend kann man sie auch nicht bei den Streamingdiensten finden. Bei YouTube findet man erst nur Ausschnitte, aber wenn man lange genug sucht, dann kommt in einer Playlist doch noch die ganze Aufnahme zum Vorschein, hier (ich hoffe, dass es funktioniert). Fast zwanzig Jahre dauerte es dann bis zu einer Rundfunkaufnahme der RAI, die später von Cetra auf LPs gepresst wurde. Diese bekommt man bei YouTube derzeit in drei Teilen: 1. Akt, 2. Akt, 3. Akt. In dieser Aufnahme singt Maria Caniglia die Titelpartie, Giacinto Prandelli ist Loris, Scipio Colombo de Siriex. Aus den 50er und 60er Jahren gibt es dann eine Reihe von Live-Aufnahmen, die wohl ursprünglich Rundfunk-Übertragungen aus Mailand, Neapel, Venedig, Dallas, Frankfurt etc. waren. In einigen davon ist Magda Olivero (geboren 1910!) Fedora, die in der Zeit als die ideale Sängerin für diese Partie galt. 1969 spielte sie die Oper in Monte Carlo unter Lamberto Gardelli im Studio mit Mario del Monaco und Tito Gobbi ein. Diese Aufnahme war danach einige Zeit die Standard-Aufnahme, bis José Carreras (1985) und Placido Domingo (1993) mit Eva Marton bzw. Mirella Freni neue Aufnahmen einspielten. Von Domingo ist inzwischen eine neuere mit Angela Gheorghiu im Umlauf. 

Und das ist der Inhalt von Fedora: Die reiche Witwe Fedora kommt ins Haus Vladimiro Andrejevitchs;  der will sie heiraten, um seine Schulden begleichen zu können. Er kommt tödlich verletzt und stirbt. Die Polizei findet schnell heraus, wer der Attentäter ist: Loris Ipanoff, ein Nihilist. Dem gelingt allerdings die Flucht. Fedora schwört Rache. * Fedora hat Loris in Paris aufgespürt und umgarnt ihn auf einem Fest in ihrer Wohnung, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Er beteuert aber seine Unschuld und kündigt Beweise dafür an. Als die Nachricht von einem Attentat auf den Zaren eintrifft, bricht Fedora das Fest ab. In der Nacht erklärt er sich: er hat Vladimiro in Notwehr erschossen, nachdem er ihn mit seiner Ehefrau erwischt hatte und der ihn angriff. Die Polizei sucht Loris als Komplizen der Zarenattentäter. Fedora verkündet jetzt, dass er ihr Liebhaber sei und kann ihn damit vor der Verhaftung schützen. * Im Berner Oberland warten Fedora und Loris auf seine Begnadigung. Die trifft ein, aber auch die Nachricht, dass sein Bruder, denunziert von einer unbekannten Frau, verhaftet wurde und umgekommen ist, worauf auch die Mutter starb. Die Denunziantin ist Fedora. Bevor Loris sich an ihr rächen kann, nimmt sie Gift. Der Sterbenden verzeiht Loris.

1956 produzierte die RAI eine Fernsehfassung der Fedora, nachdem die Scala die Oper sechs Mal mit Maria Callas und Franco Corelli unter der Leitung von Gianandrea Gavazzeni gespielt hatte. Callas und Corelli bekamen sie aber nicht vor die Linse, es singen hier Maria Heredia Capnist und David Poleri und auch Gavazzeni ist nicht mit von der Partie, es dirigiert Bruno Bartoletti. Sie können noch eine Reihe neuerer Videos finden, die meisten sind aber entweder musikalisch uninteressant oder leiden unter optischen oder akustischen Mängeln, wegen derer man schnell weiterklickt. Sie können es mit dieser Aufnahme aus Piacenza vom letzten Jahr versuchen. Die Ausstattung und Inszenierung sind von Pier Luigi Pizzi. Die Besetzung ist nicht prominent, aber gut. Interessant ist auch diese konzertante Aufführung aus dem Concertgebouw 2021. Da sieht man das Orchester die ganze Zeit und kann die farbenreiche Partitur ganz gut verfolgen. Es trägt zwar niemand eine Maske, aber die Covid-Stimmung drückt, etwa wenn nach der ersten Arie der Fedora kein Applaus kommt, was die Sängerin durchaus irritiert.

Fédora (oder Fœdora, wie sie zuerst heißen sollte) ist das erste Drama, das Victorien Sardou für Sarah Bernhardt schrieb. Es kam 1882 im Théâtre du Vaudeville heraus und war von Anfang an ein großer Erfolg. Es sollten Théodora (1884), La Tosca (1887), Cléopâtre (1890), Gismonda (1894), Spiritisme (1897) und La Sorcière (1903) folgen. Außer Fédora ist nicht nur La Tosca später zu einer Oper geworden (Tosca von Giacomo Puccini). Théodora komponierte Xavier Leroux 1907, Camille Erlanger La Sorcière 1912, Henry Février Gismonda 1919. 1889 sah Umberto Giordano in Neapel eine Aufführung der Fédora mit Sarah Bernhardt und fragte gleich bei Sardou nach, ob er eine Oper danach schreiben könne. Der lehnte es ab, den Stoff einem völlig unbekannten Komponisten zu überlassen. Erst nach dem großen Erfolg mit Andrea Chénier änderte sich die Lage und Giordanos Verleger Sonzogno kam ins Geschäft mit Sardou. Exakt das Gleiche ereignete sich mit Giacomo Puccini und seinem Verlag Ricordi im Zusammenhang mit (La) Tosca. Zwei Jahrzehnte danach griff Giordano noch einmal auf eine Vorlage von Sardou zurück, Madame Sans-Gêne (die Vorlage schrieb Sardou 1893 zusammen mit Émile Moreau) kam am 25. Januar 1915 an der Met heraus. Geraldine Farrar, Giovanni Martinelli und Pasquale Amato sangen unter der Leitung von Arturo Toscanini. Also eine Besetzung fast wie eine Kombination aus La fanciulla del West und Königskinder. Martinelli spielte die Arie 1917 ein, hier zu hören. Was dort über die Portamenti gesagt wird, erinnert mich daran, dass kein Instrument diese Fähigkeit der menschlichen Stimme so perfekt nachzuahmen in der Lage ist, wie das Theremin, das ich vor kurzem in Hamburg beim Neumeier-Ballett Die kleine Meerjungfrau genießen konnte. Das Theremin in einer Opernarie, besonders abschreckend hier. Bei Lera Auerbach in der Ballettmusik für Neumeier ist es genau umgekehrt, nicht das Theremin ahmt andere Instrumente oder gar eine Singstimme nach, sondern die Instrumente (vor allem Solo-Violine und Klarinette, aber eigentlich alle irgendwie) lassen sich auf den Ton des Theremin ein, so dass man oft gar nicht genau heraushört, was vom Theremin kommt und was aus dem übrigen Orchester. Das ganze Ballett in einer Aufführung aus San Francisco hier. Und hier, was Lera Auerbach zum Theremin zu sagen hat. Aber das ist ein ganz anderes Thema...

Bis Mittwoch, ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler 

 

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