Montag, 10. November 2025

Paul Hindemith in den 1920er Jahren

Keiner konnte je so gut Musik erklären, wie Leonard Bernstein. Sein »Young People's Concert« mit der New York Philharmonic, wenige Wochen nach Paul Hindemiths Tod, sei deshalb wärmstens zur Einstimmung empfohlen. Da ist zwar hauptsächlich von Mathis der Maler die Rede, aber es kommen auch Werke aus den 20ern vor, vor allem spielt Bernstein Ausschnitte am Klavier.

Cardillac ist das sechste Bühnenwerk von Paul Hindemith (1895–1963). Mit drei Einaktern fing er kurz nach Ende des 1. Weltkriegs an. Mörder, Hoffnung der Frauen nach dem expressionistischen Text von Oskar Kokoschka (1886–1980) und Das Nusch-Nuschi, ein »Spiel für burmanische Marionetten« auf ein Libretto von Franz Blei (1871–1942) kamen am 4. Juni 1921 in Stuttgart zur Uraufführung. Sancta Susanna nach Ein Gesang der Mainacht des imWeltkrieg gefallenen August Stramm (1874–1915) kam erst am 26. März 1922 in Frankfurt/M. heraus. Diesen Titel mögen Sie schon gehört haben, eine Inszenierung von Florentina Holzinger sorgte im letzten Jahr für einen Skandal. Obwohl die drei Werke nur selten zusammen gespielt werden, sind sie als Trilogie konzipiert und vertreten die Zeit zwischen Expressionismus, Dadaismus und Neuer Sachlichkeit nach dem Ersten Weltkrieg. Sancta Susanna gibt es in zwei Inszenierungen auf YouTube zu sehen (nein, nicht in der von Holzinger, aber ine nackte Sopranistin ist trotzdem zu sehen), aus der Opéra de Lyon hier und aus dem Teatro di Pisa hier. In Lyon wurde die Oper mit Cavalleria rusticana von Pietro Mascagni kombiniert (einmal etwas anderes als das ewige Einerlei von Cavalleria rusticana und I Pagliacci) und in Pisa mit Suor Angelica von Puccini (so kommt die oft aus Puccinis Trittico weggelassene mittlere Oper auch einmal zu Ehren). Mörder, Hoffnung der Frauen und Das Nusch-Nuschi gibt es nur als Audio dirigiert von Gerd Albrecht, aber mit Klavierauszug.

1922 kam noch ein Weihnachtsmärchen dazu, Tuttifäntchen, und eine Tanzpantomime, Der Dämon. Auch von Tuttifäntchen gibt es eine Tonaufnahme aus Berlin, es dirigiert Johannes Zurl, der zuletzt in Cottbus den Freischütz und Das schlaue Füchslein dirigiert hat. Annika Schlicht, die Sie bestimmt von der Deutschen Oper Berlin kennen, ist mit von der Partie. Hier die Playlist, sie müssen einfach die Werbevideos überspringen. Der Dämon ist hier in einer Aufführung aus Basel verfügbar. Dies ist eine kammermusikalische Version mit solistisch besetzten Streichinstrumenten, Sie können auch sinfonische Versionen finden, wo die Streicher chorisch besetzt sind.

Das zentrale Bühnenwerk Hindemiths der Zwanziger Jahre ist zweifellos Cardillac. Es kam am 9. November 1926 in Dresden unter der musikalischen Leitung von Fritz Busch heraus und verbreitete sich schnell, ehe Hindemith von den Nationalsozialisten verboten wurde. 

240 Worte, worum es in Cardillac geht (1. Fassung): Ein Serienmörder versetzt Paris in Aufregung. Die Schlosswache Ludwigs XIV. beschwichtigt: es ist das Sondergericht »brennende Kammer« eingerichtet worden. Cardillac ist der berühmte Goldschmied, der immer noch Kunden findet, obwohl Besitzer seiner Geschmeide häufig Mordopfer werden. Die Dame verspricht dem Kavalier, sich ihm hinzugeben, wenn er ihr das Schönste schenkt, was Cardillac je schuf. Der Kavalier wagt den Gang zum Goldschmied trotz der Todesgefahr. – Der Kavalier bringt der Dame den Gürtel. Eine vermummte Gestalt betritt das Zimmer, tötet den Kavalier und stiehlt das Geschmeide. * Cardillac ist unzufrieden mit der Ware, die ihm der Goldhändler bringt. Dieser argwöhnt, dass Cardillac etwas mit den Morden zu tun hat. Die Tochter Cardillacs kann sich nicht entschließen, mit dem Offizier zu fliehen. Mit neuem Gold versehen, nimmt Cardillac seine Arbeit auf und kümmert sich nicht um seine Tochter. Der König besucht die Werkstatt. Dem König will Cardillac jedoch nichts verkaufen, da er ihn sonst ermorden müsste. Dem Offizier überlässt er gern »das Schönste, was er schuf«, als er begreift, dass der nur seine Tochter meint und keinen Schmuck. Dennoch kauft der Offizier eine Kette. Cardillac verwandelt sich in den Mörder und eilt ihm nach. * Der Offizier wird von Cardillac nur leicht verletzt und beschuldigt den Goldhändler der Komplizenschaft am Mordversuch. Den erwartet die Folter, während Cardillac gefeiert wird. Cardillac verstrickt sich jedoch in Widersprüche und wird schließlich vom Volk gelyncht. Sterbend küsst er nicht etwa die Tochter, sondern die Kette des Offiziers.

1985 inszenierte Jean-Pierre Ponnelle das Werk in München mit Donald McIntyre in der Titelrolle, Wolfgang Sawallisch dirigierte. Die Produktion ist gewissermaßen der Klassiker, an dem sich alle abarbeiten müssen, er ist hier zu sehen. Wie seit 1965 alle Dirigenten und Regisseure, entschlossen sich Sawallisch und Ponnelle, die Fassung von 1926 und nicht die Bearbeitung von 1952 zu spielen. Angeblich hatte der ehemalige Intendant der Bayerischen Staatsoper dem Komponisten vor dessen Tod noch das Einverständnis entlockt, die erste Fassung zu verwenden, wie es denn 1965 geschah, als der damalige bayerische Generalmusikdirektor Joseph Keilberth Hartmanns Inszenierung dirigierte. Keilberth dirigierte auch die erste Schallplattenaufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau als Cardillac, die Sie hier hören können. Seit 1969 in Leipzig zum letzten Mal die Neufrassung inszeniert wurde, gab es keine Aufführungen dieser Fassung mehr. Daher gibt es davon auch nur eine Aufnahme. Paul Hindemith dirigierte 1957 diese konzertante Aufführung im Wiener Funkhaus. Interessant ist der eingefügte 3. Akt, der Musik von Lully einbezieht (eine Kurzfassung dessen Oper Phaëton, die 1683 zur Uraufführung kam, also etwa zu der Zeit, in der Cardillac spielt), der 3. Akt beginnt etwa bei eine Stunde, neun Minuten. Interressant ist in dem Zusammenhang ein Konzert, das Hindemith 1954 ebenfalls in Wien im Konzerthaus dirigierte. Auf dem Programm stand Orfeo von Claudio Monteverdi. Das Orchester bestand aus Mitgliedern der Wiener Symphoniker, darunter Nikolaus Harnoncourt. Das Konzert gilt als das inoffizielle Gründungskonzert des »concentus musicus«, mit dem Harnoncourt in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Schallplattenaufnahmen tätigte.

Zwei Werke Hindemiths fallen noch in die Zwanziger Jahre, denen wir im Zusammenhang mit Kurt Weill schon begegnet sind: Hin und zurück (uraufgeführt zusammen mit dem Mahagonny-Songspiel) und Der Lindberghflug (komponiert zusammen mit Weill auf einen Text von Bertolt Brecht). Dazu gehört noch Das Lehrstück (auch Das Badener Lehrstück vom Einverständnis), eine weitere Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Das Wichigste aber ist Neues vom Tage, die in der Krolloper uraufgeführte Zeitoper, die (wegen einer scheinbar nackten Frau in der Badewanne) den künftigen Diktator Hitler so sehr in Rage brachte, dass er verfügte, Hindemiths Musik sei bolschewistisch und demzufolge zu verbieten. Auch Neues vom Tage hat Hindemith in den 1950er Jahren bearbeitet (da ist es dann ein »nackter« Mann). Auch diese Neubearbeitung hat sich nicht durchgesetzt. Die Originalfassung hat Jan Latham-König auf CD aufgenommen, 1. Akt, 2. Akt, 3. Akt.

Mehr Hindemith am Mittwoch, ich freue mich darauf,
Ihr Curt A. Roesler 

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