Detlev Glanert und Hans-Werner Henze sind die beiden Komponisten, mit denen wir uns diese Woche befassen. Detlev Glanert ist für die Zehlendorfer Operngespräche tatsächlich neu – wir haben zwar vermutlich alle die Uraufführung Oceane gesehen, aber bei Uraufführungen bin ich immer vorsichtig, da reicht mir das Material meist nicht aus, um seriös vorher darüber zu sprechen. Hans Werner Henze hingegen ist ein »Klassiker«, zuletzt 2019 (The Bassarids) und 2023 (Das Floß der Medusa). Wenn Sie links oben im Suche-Feld einen Namen oder einen Titel eingeben, bekommen Sie das Entsprechende aufgelistet und können alles noch einmal nachlesen (inklusive aller Irrtümer und Druckfehler).
Detlev Glanert, mit dem wir beginnen wollen, ist ein Schüler von Hans Werner Henze. Soviel ist schon bekannt. Natürlich war und ist er auch ein Bewunderer des Komponisten Hans Werner Henze – und Spuren davon kann man auch in seiner Musik finden. Aber er hatte auch andere Lehrer. In seiner Gebrutststadt Hamburg (*1960) ging er bei Diether de la Motte (1928–2010) in die Komponistenschule. Der Ehemann der Berliner Musikwissenschaflterlin Helga de la Motte-Haber (TU 1978–2005) ist vielleicht bedeutender als Lehrer und Theoretiker, denn als Komponist. Seine theoretische Schriften Harmonielehre und Kontrapunkt sind Standards. Seine früheste verfügbare Komposition (von 1951) ist bezeichnenderweise eine Toccata, Aria und Fuge für Klavier, hier gespielt vom großen Pianisten Conrad Hansen. Bei Diether de la Motte studierten u. a. auch Manfred Trojahn und Charlotte Seither. Diether de la Motte ging auch in Grundschulen und arbeitete mit Kindern, er war ein umfassender Musikpädagoge. Und wer bei ihm gelernt hatte, war ausgebildet im besten Sinn. Die Bedeutung von Hans Werner Henze (1926–2010) als Lehrer ist eine ganz andere. Er wollte seinen SchülerInnen nicht unbedingt etwas »beibringen«, er lehrte sie, aus sich herauszugehen und den eigenen Weg zu finden. Vor allem aber bereitete er ihnen, wenn er von ihrem Talent berzeugt war, auch Wege. Mit dem »Märchen für Musik« Leyla und Medjnun von Detlev Glanert eröffnete er die erste »Münchener Biennale – Festival für neues Musiktheater«. Noch sechs andere Musiktheaterwerke kamen dort 1988 zur Uraufführung, darunter Stallerhof von Gerd Kühr (ebenfalls Henze-Schüler) und Bremer Freiheit von Adriana Hölszky. Als dritten Lehrer nennt Glanert Oliver Knussen (1952–2018). Der schrieb um 1980 zusammen mit dem amerikanischen Kinderbuchautor und Illustrator zwei Klassiker des Kindermusiktheaters: Where the Wild Things Are (nach dem gleichnamigen Kinderbuch) und Higgelty Piggelty Pop. Beides zusammen gibt es zusammen auf einem CD-Album von DG und sie können es bei den Streamingdiensten hören. Oliver Knussen, der auch als Dirigent eine bedeutende Karriere hatte, leitet die Einspielungen mit der London Sinfonietta selbst.
Leyla und Medjnun, das erste von bisher 14 Musiktheaterwerken Glanerts, liegt inzwischen in einer revidierten Fassung von 2016 vor. Es wurde zuletzt 2021 in Wien gespielt. Für seine zweite Oper, Der Spiegel des großen Kaisers nach Arnold Zweig erhielt er 1993 den Rolf-Liebermann-Opernpreis. Was ich über diesen Preis herausgefunden habe: er wurde von Kurt A. Körber 1983 in Erwartung des 75. Geburtstages von Rolf Liebermann (1985) gestiftet und nach Körbers Tod im August 1992 eingestellt. Glanert war also der Letzte, der ihn verliehen bekommen hat. Ich habe längst nicht alle Preisträger herausbekommen, mein Eindruck, dass alles nur Männer über dreißig waren, mag daher falsch sein. Man musste die Partitur eines Musiktheaterwerks von mindestens 100 Minuten Spieldauer einreichen, um sich für den Preis zu bewerben. Wolfgang Rihm hätte ihn also weder für Jakob Lenz, noch für Oedipus bekommen können. Er hat ihn aber 1986 für Die Hamletmaschine bekommen (war auch knapp, die CD hat eine Laufzeit von 92 Minuten). Der erste Preisträger war 1983 Konrad Boehmer, weitere waren York Höller und Detlev Müller-Siemens. Der Spiegel des großen Kaisers wurde 1995 in Mannheim uraufgeführt. Zuletzt gab es 2006 in Münster Aufführungen.
Davor und danach arbeitete Glanert an drei Kammeropern nach frühen Texten von Thornton Wilder, in deutschen Ausgaben als »Einakter und Dreiminutenspiele« bezeichnet (original: The Angel That Troubled the Waters an Other Plays, 1928). Drei Wasserspiele kamen kurz vor Der Spiegel des großen Kaisers in Bremen zur Uraufführung. Zuletzt wurden sie 2024 in Kaiserslautern gespielt. In Bremen kam 1999 die nächste große Oper von Glanert heraus, Joseph Süß. Auch diese Oper ist mehrfach nachgespielt worden, zuletzt 2015 in Münster. Nach Bremen kommt Halle als Wirkungsstätte, auch da gab es zwei Uraufführungen. 2001 Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, die Auseinandersetzung Christian Dietrich Grabbes mit der Romantik. Die letzten Aufführungen sind aus Pforzheim 2011 dokumentiert. 2003 kamen in Halle Die drei Rätsel, die seither an vielen verschiedenen Orten gespielt wurden, so in Hamburg und in Montpellier, zuletzt in Basel, und jetzt an der Deutschen Oper Berlin. Die Basler Aufführung ist hier bei YouTube zu sehen. Drei Rätsel kennt man ja aus Turandot und um so etwas Ähnliches geht es auch hier. Aber beim Inhalt mache ich mir jetzt einen schanken Fuß und lasse den Verlag reden, hier (herunterscrollen, dann kommt die »Zusammenfassung«).
Dass Elke Heidenreich unbedingt Opernlibretti schreiben wollte, haben wir ja in zahlreichen Talkshows seit den 90ern gehört, Glanert hat für sie das 9-Minuten-Intermezzo Ich bin Rita vertont, 2003 in Köln (wo sonst) uraufgeführt. Etwas ganz anderes ist Caligula, 2004–2006 komponiert nach dem Drama von Albert Camus, die erste Zusammenarbeit mit Henzes Librettist Hans-Ulrich Treichel. Die Uraufführung war in Frankfurt/M unter der Musikalischen Leitung von Markus Stenz, ein Tonmitschnitt ist hier zu hören. Es gibt ihn auch auf CD. Caligula wurde mehrfach nachgespielt, zuletzt 2015 in Hannover und 2022 in Weimar. Und wieder etwas ganz anderes ist Nijinskys Tagebuch (2007/08) für zwei Sänger, zwei Schauspieler, zwei Tänzer und Instumente. Die Tagebücher, die Nijinsky 1919 in St. Moritz führte und die seinen Nervenzusammenbruch und den Weg in die Schizophrenie dokumentieren, die ihn von 1919 bis 1945 zum Pflegefall machte, hatte bereits 2001 der niederländische Fotograf Paul Cox einem in Australien gedrehten Spielfilm zugrundegelegt. Nijinskys Tagebuch kam in Aachen zur Urauführung und wurde verschiedentlich nachgespielt, so in Linz und Bregenz, zuletzt wohl in Bordeaux 2015. Das Holzschiff nach dem gleichnamigen Roman von Hans Henny Jahnn schwimmt wieder in etwas gewohnteren Operngefilden, dennoch scheint es nach der Uraufführungsserie 2010/11 in Nürnberg (Regie: Johann Kresnik) nicht mehr gespielt worden zu sein. YouTube hat aber den Rundfunkmitschnitt der Uraufführung festeghalten, hier.
An dem futuristischen Roman Solaris von Stanisław Lem haben sich mehrere Komponisten abgearbeitet. Ich kann mich erinnern, dass ein Komponist – ich weiß nur nicht mehr welcher – unbedingt in den 80er Jahren einen Auftrag von der Deutschen Oper haben wollte, »operabase« listet vier Opern mit diesem Titel auf. Der erste war wohl Michael Obst, der 1996 (im ersten Jahr unter der Leitung von Peter Ruzicka) bei der Münchener Biennale seine Kammeroper vorstellte. Gleichzeitig mit Glanert arbeitete Enrico Correggia an dem Stoff, sein Solaris für vier Stimmen, Tomband und Ensemble kam 2011 in Turin zur Aufführung. Wie er auf Pinterest zum Besten gibt, hätte schon lieber eine große Oper für großes Orchester geschrieben, aber die Aufführungsmöglichkeiten waren beschränkt und da ist es eben eine Kammeroper geworden. Solche Beschränkungen musste sich Glanert nicht auferlegen. Seine Oper kam mit Erfolg 2012 in Bregenz heraus und wurde in 2014 Köln nachgespielt. Seither aber wurde sie nicht mehr gespielt. Warum? Solaris das neuere Konkurrenzprodukt von Dai Fujikura 2015 in Lausanne (zusammen mit Lille und Théâtre des Champs-Élysées produziert) und danach auch in Augsburg und in Wien gespielt, wurde nämlich, insbesondere von der deutschen Presse, nicht sehr begeistert aufgenommen.
Zum Abschluss der Intendanz von Peter Ruzicka an der Münchener Biennale kam noch einmal ein Werk von Glanert heraus, Die Befristeten, nach dem gleichnamigen Stück von Elias Canetti. Die Berliner Truppe »Nico and the Navigators« war mit dabei und damit kommen wir zu Oceane, uraufgeführt im Fontane-Jahr an der Deutschen Oper Berlin (ohne Nico). Die Uraufführung haben Sie bestimmt noch in guter Erinnerung, die CD vielleicht sogar im Schrank. Dazu braucht also nicht viel gesagt zu werden. In Bremerhaven gab 2022 es eine zweite Inszenierung. Die neueste Oper von Glanert ist Die Jüdin von Toledo nach Feuchtwanger, 2024 in Dresden uraufgeführt. Da finden Sie noch verschiedene Trailer von der Semperoper bei YouTube. Die Uraufführung wurde von verschiedenen Rundfunkanstalten übertragen, wer damals auf den Aufnahmeknopf gedrückt hat, hat jetzt eine Aufnahme.
Auf ein nicht szenisches Werk von Detlev Glanert möchte ich noch besonders aufmerksam machen Requiem für Hieronymus Bosch, geschrieben 2015/16 und am 500. Todestag Boschs am 4. November 2016 in der Kathedrale von 's-Hertogenbosch vom Concertgebouw-Orchester und dem Niederländischen Rundfunkchor unter Leitung von Markus Stenz zur Uraufführung gebracht. Diese außergewöhnliche Aufführung finden Sie hier als Video. Die Solisten sind Aga Mikolaj, Ursula Hesse von den Steinen, Gerhard Siegel, Christof Fischesser (SATB), David Wilson-Johnson (Sprecher), Leo van Doeselaar (Orgel).
Nun auch noch etwas zu Henzes The English Cat. Die Uraufführung 1983 in Schwetzingen kam manchen wie der Beginn einer neuen Epoche vor. Von einigen Journalisten wurde Henze vorgeworfen, er habe seine Überzeugungen über Bord geworfen, indem er sich so einer harmlosen Tierstory widmet. Dass die Story ganz und gar nicht harmlos ist, wurde dabei wohl übersehen. Alte Vorurteile über einen Komponisten, der vorzugsweise für ein Publikum in Pelzen und mit Sektgläsern in der Hand komponiert (1966 bei The Bassarids in Salzburg eine weit verbreitete Rede), wurden hervorgeholt. Beim Publikum jedoch kam die Oper gut an, wenn auch der eine oder andere Besucher eher so etwas wie Cats von Andrew Lloyd-Webber erwartet haben mag. Bis 1992 berbreitete sich das Werk über die gesamte Opernwelt. Danach wurde es ewtas stiller, jedenfalls gibt es in der Chronik des Verlags eine Lücke bis 2011, wo The English Cat in Münster gespielt wurde. Den Stoff fand Henze in den Scènes de la vie privée et publique des animaux (1840) von Honoré de Balzac, einem Seitenwerk zu La comédie humaine. Grandville illustrierte die erste Ausgabe wunderbar. Hier das Digitalisat der BnF. Eine deutsche Übersetzung ist schwer zu finden, es gibt antiquarisch ein Taschenbuch aus den 50ern Herzensleid einer englischen und einer französischen Katze. Der Bühnenverlag Hartmann & Stauffacher bietet ein Stück von Geneviève Serreau, übersetzt von Astrid Fischer-Windorf mit dem Titel Herzeleid einer englischen Katze an, das Edward Bond wohl als Ausgangspunkt für sein Libretto nahm. Edward Bond übrigens hatte auch das Libretto zu We Come to the River verfasst, einen Höhepunkt des aktivistischen Musiktheaters von Henze. Also es ist völlig abwegig anzunehmen, Henze habe hier eine ganz andere Richtung eingenommen. Es sei denn, eine Hinwendung zum Zuschauer, dem er bei seinem Cantiere Internazionale d'Arte seit 1976 in Montepulciano nähergekommen war.
Worum geht es in der durchaus nicht sanften Satire The English Cat?
Die Königliche Gesellschaft für den Schutz der Ratten will den designierten Präsidenten Lord Puff verheiraten. Es wird Zeit, denn er ist schon recht alt. Die junge Braut Minette kommt mit ihrer Schwester Babette, die sich aber an den vegetarischen Prinzipien der Gesellschaft stört und sie gleich wieder mitnehmen will. Diese findet das aber ganz gut, denn keine anderen Tiere zu fressen, entspricht dem, was sie von ihrem Pfarrer gelernt hat. Sie bleibt also. Arnold, der Neffe Puffs indessen, bangt um sein Erbe. * Auf dem Dach wirbt der junge Kater Tom um Minette, beobachtet von Arnold, der glaubt, mit einer Denunziation die Hochzeit noch hintertreiben zu können. * Tom verkleidet sich als Pfarrer, um Puff und Minette verheiraten zu können. Die Anschuldigungen Arnolds kann Minette damit entkräften, dass sie angibt, sie habe Tom als Mitglied der Gesellschaft werben wollen.
Minette bekommt Besuch von ihrer Schwester, der sie Geld gibt, um das Elend der Familie auf dem Land zu lindern. Tom kehrt zurück von seinem verzweifelten Ausflug in die Marine, von der er wieder desertiert ist. Tom und Minette werden beim Liebesspiel von der Gesellschaft überrascht, Puff muss die Scheidung einreichen. * Tom sperrt den Verteidiger im Scheidungsgericht ein und versucht in dessen Kleidern den Beweis von Lord Puffs Eheunfähigkeit zu erbringen. Doch er wird entlarvt und er und Minette werden von den Geschworenen schuldig gesprochen. Als alle gegangen sind erkennt aber der Staatsanwalt in ihm seinen verschollenen Sohn, den er nun beerbt. * Minette wird in einen Sack gesteckt und soll in der Themse ertränkt werden. Tom hat sich inzwischen in Babette verliebt und tut nichts mehr für sie. * Der Anwaltsgehilfe Lucian ersticht Tom, der gerade sein ganzes Vermögen Babette vermachen wollte. Da das Testament nicht unterschrieben ist, kann sich die Gesellschaft alles unter den Nagel reißen.
Die CD The English Cat von 1989 unter der Leitung von Markus Stenz ist offenbar nicht mehr lieferbar, aber jemand hat sie zu YouTube hochgeladen, hier.
Dann also bis Mittwoch. Ich freue mich,
Ihr Curt A. Roesler
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