Fidelio ist eine der Opern, deren Entstehungsgeschichte recht genau nachverfolgt werden kann. Es gibt drei Fassungen, die zu unterschieden sind und in aller Regel auch in Aufführungen nicht vermischt werden – anders als etwa bei Don Carlos von Verdi, über den wir hier auch schon gesprochen haben. Alle drei von Beethoven überwachten Uraufführungen wurden unter dem Titel Fidelio gegeben, Unterschiede gab es im Untertitel und in der Anzahl der Akte. Um es etwas übersichtlicher zu machen, hat die Musikwissenschaft sich darauf geeinigt, die frühen Fassungen nach der französischen Vorlage Leonore zu nennen und nur die endgültige Fidelio. Die allererste Fassung, die zu unglücklicher Zeit, nämlich unter Napoleons zeitweiliger Herrschaft in Wien, am 20. November 1805 uraufgeführt wurde, heißt danach Ur-Leonore, die vier Monate später erschienene, bereits auf zwei Akte reduzierte, nur Leonore. Die Ur-Leonore ist dabei nicht vollständig rekonstruierbar, insbesondere die große Soloszene Florestans am Anfang des 2. Aktes hatte möglicherweise noch eine andere Form. Die Einteilung in drei Akte (selbst wenn man heute deswegen nicht unbedingt zwei Pausen machen würde) ist dabei vielleicht nicht ganz falsch. Dabei wird – um vorschnellen Schlüssen gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen – nicht etwa der jetzige zweite Akt mit seinen zwei Bildern (Gefängnis und Platz davor) aufgeteilt, sondern der erste Akt. Damit ist das, was wir als »singspielhaft« empfinden, das häusliche Umfeld der Familie Rocco, im ersten Akt abgeschlossen und es beginnt mit dem Auftritt des Pizarro ein neuer Akt.
Schon früh hatte man es sich angewöhnt, die Ouvertüren der Früheren Fassungen Leonoren-Ouvertüren zu nennen. Drei kennen wir davon, es müsste noch eine vierte geben, die am 23. Mai 1814 gespielt wurde, als nämlich die Fidelio-Ouvertüre noch nicht fertig war und man sich mit etwas anderem behelfen musste. Die erste der drei Leonoren-Ouvertüren hatte Beethoven schon früh aussortiert, Nr. 2 wurde am 20. November 1805 gespielt, Nr. 3 am 29. März 1806. Ausgerechnet der Komponist und Dirigient, der Traditionen stets hinterfragte, sie gelegentlich sogar als »Schlamperei« bezeichnete, Gustav Mahler, führte eine neue Tradition ein, nämlich die 3. Leonoren-Ouvertüre als Umbaumusik vor dem Schlussbild zu spielen. Manche Opernliebhaber haben sich im letzten Jahrhundert so sehr daran gewöhnt, dass sie es noch in diesem Jahrhundert haben möchten. Werden sie aber, das sei verraten, in der Deutschen Oper Berlin nicht bekommen, das war schon bei den letzten drei Inszenierungen seit 1962 so.
Leonore, Gattin des politischen Gefangenen Florestan, verkleidet sich als Mann, um als Gehilfe des Gefängniswärters Rocco herausfinden zu können, ob ihre Vermutung richtig ist, und ihr Mann in diesem Gefängnis eingesperrt ist. Nachdem sie verschiedenste Hindernisse und Verzögerungen aus dem Weg geräumt hat, kann sie gerade noch verhindern, dass Florestan vom Gouverneur des Gefängnisses, Don Pizarro umgebracht wird. Die Ankunft des Ministers just in diesem Augenblick gerät zur Jubelfeier, in der alle, auch das in das Gefängnis einströmende Volk, den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit huldigen. So geht die Handlung von Fidelio kurzgefasst. Die Namen deuten einen spanischen Schauplatz an. Diese Vorsicht (gegenüber der Zensur) hatte schon Nicolas Bouilly 1798 in Paris für seine Léonore, ou L'amour conjugal walten lassen, die von Joseph Sonnleithner als Vorlage verwendet wurde. In Wien musste das noch weiter in die Ferne gerückt werden, nämlich ins 16. Jahrhundert.
Heutige Regisseure müssen sich zum Glück nicht mehr um Zensur kümmern. Aber sie haben es mit Fidelio schwer. Diese Oper gilt als so etwas wie eine »National-Oper«. Das schraubt die Ansprüche hoch und so mancher Regisseur und so manche Regisseurin ist daran gescheitert, weil er es allen recht machen wollte. Das wird hoffentlich an der Deutschen Oper Berlin diesmal nicht passieren. David Hermann hat ein sehr klares, ganz auf der Musik aufbauendes Konzept. Er lässt Traditionen beiseite und arbeitet in einer zeitlosen und gegenwärtigen Umgebung die Ambivalenzen der einzelnen Figuren heraus – so war es in der »Opernwerkstatt« zu sehen.
YouTube ist voll von Fidelio-Aufnahmen. Leider allerdings ist die Leonore aus dem Theater an der Wien von 2020 mit Nicole Chevalier in der Titelpartie nicht mehr vorhanden (als Bluray oder DVD jedoch immer noch erhältlich etwa bei jpc). Wer Leonore in der rekonstruierten ersten Fasssung wenigstens hören will, findet die Dresdner Schallplattenaufnahme von Herbert Blomstedt mit Dialogen hier. Die schönste klassische Aufführung in Farbe ist die von Leonard Bernstein in Wien 1978 dirigierte Inszenerung von Otto Schenk – mit Leonore II natürlich – hier. In schwarz/weiß hier die Aufführung von 1962 in der Deutschen Oper Berlin, ohne Leonoren-Ouvertüre, was damals einige Kritiker aufgeregt hat.
Wer ein wenig Musik aus der Vorlage, Léonore, ou L'Amour conjugal von Pierre Gaveaux, Libretto von Nicolas Bouilly, hören und sehen möchte: hier. Die ganze Oper gibt es als Bluray und DVD z. B. bei jpc. Auf YouTube gibt es nur noch einen kleineren weiteren Ausschnitt aus dem 1. Akt hier.
Vor Beethoven haben sich schon zwei andere Komponisten das Libretto von Nicolas Bouilly adaptieren lassen, Ferdinando Paër, und Giovanni Simone Mayr. Die Oper Leonora von Ferdinando Paër wurde schon 1978 für die Schallplatte aufgenommen, Peter Maag dirigiete, der ganz junge Siegfried Jerusalem war dabei und Edita Gruberova (aber nicht etwa als Leonore, sondern als Marzelline). Man kann sich die Einzelteile davon auf YouTube zusammensuchen, aber inwzischen gibt es eine neuere und sich mehr an der historischen Aufführungspraxis orientierende aus Innsbruck hier. Auch von der Oper L'amor coniugale von Giovnni Simone Mayr gibt es zwei CD-Aufnahmen, hier die neuere (Playlist).
Bis Mittwoch in der Alten Feuerwache, Ihr Curt A. Roesler
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