Dienstag, 28. September 2021

Strawinsky: Oedipus rex

Strawinsky wird in einem Kurs ab dem 25. Mai Thema sein; das hier ist sozusagen eine Vorschau – allerdings werde ich, wenn ich fünf Abende für den ganzen Strawinsky habe, nicht einen ganzen Abend Oedipus rex widmen können; er ist dann Teil einer ganzen Schaffensperiode, zu der wir jetzt kommen.

Die Jahre ab 1926 bis etwa 1934 waren für Strawinsky, wie er in den Erinnerungen auch sagt, von seiner Rückkehr zur orthodoxen Kirche geprägt. Er war übrigens nicht Jude und noch weniger Kommunist, wie sehr die Nazis seine Musik auch als »jüdisch« oder »bolschewistisch« verfemten. Aber in seiner frühen Zeit, wo er solche Werke wie Le sacre du printemps und Petruschka schuf, hatte er sich von der Kirche entfernt. Die Kirche seiner polnischen Vorfahren (im 18. Jahrhundert) war selbstverständlich die katholische, die seiner Eltern in St. Petersburg die russisch-orthodoxe. Der Strawinsky-Biograph Stephen Walsh, der lange vor seiner wichtigen zweibändigen Biographie (2000 und 2006), nämlich 1988, The Music of Stravinsky herausgab, überschreibt das Kapitel, in dem er Oedipus rex beschreibt so: »The Christian Rites of Spring: Oedipus and Persephone«. Im April 1926 ging Strawinsky erstmals (wieder) zur Beichte bei einem orthodoxen Priester in Paris und er komponierte noch im gleichen Jahr ein Pater noster für Chor a cappella auf den kirchenslawischen Text. Normalerweise wird es heute bei uns natürlich mit dem 1949 unterlegten lateinischen Text aufgeführt. Vorläufig abgeschlossen wird die Periode 1934 mit einem Ave Maria, ursprüngich auch kirchenslawisch und erst 1949 auch lateinisch herausgegeben. Geistliche Werke wie Babel, die (lateinische) Messe und das Canticum sacrum werden in den 40er und 50er Jahren noch folgen.

Die Entscheidung, das Oedipus-Drama in lateinischer Sprache zu komponieren, fiel schon 1925, ist aber trotzdem in diesem Zusammenhang zu sehen. Die neu zu erfindende szenische Form (»Opern-Oratorium« nannte er es in Ermangelung besserer Begrifflichkeiten) sollte etwas von der Ritualisierung haben, die auch in der katholischen Kirche in der Messe praktiziert wird. Es ist ein Text, der allgemein bekannt ist und dennnoch immer wieder neu komponiert werden kann. Mit dem Kunstgriff kommt Strawinsky sowohl der antiken Form des Dramas als Kulthandlung wie auch der gegenwärtigen Religionsausübung nahe. Oedipus als eine Figur, die sich selbst opfert wie Christus, eignet sich ganz besonders für dieses Konzept. Die Urauffürung in Paris am 30. Mai 1927 war rein konzertant. Es fehlte das Geld für eine szenische Aufführung. Ein Jahr später konnten zwei Theater aus dem deutschsprachigen Raum die Mittel aufbringen: die Wiener Staatsoper, die es am 23. Februar 1928 in einer Inszenierung von Lothar Wallerstein herausbrachte, und die Krolloper in Berlin, wenige Tage danach. In Wien war das Werk nicht sonderlich erfolgreich, aber in Berlin schug es als Sensation ein. Links zu Aufführungen von Oedipus rex nd auch Bemerkungen zur Zusammenarbeit mit Jean Cocteau finden sich im Blogbeitrag von vergangener Woche, deshalb geht es hier weiter mit Werken aus der gleichen Schaffenperiode.

Der andere »Christian Rite of Spring«, Perséphone, entstand ebenfalls in enger Zusammenarbeit mit einem großen französischen Schriftsteller, André Gide. Angeregt wurde Strawinsky zu diesem Werk von Ida Rubinstein, der Star-Pantomimin in der Truppe von Serge Diaghilev, für die schon Debussy Le Martyre de Saint-Sébastien komponiert hatte, und Richard Strauss die Josephs Legende – in der sie allerdings ebenso wie Vaslav Nijinsky im letzten Moment ersetzt werden musste. Strawinsky nannte das Werk ein »Melodram«, die Titelpartie ist von einer sprechenden Tänzerin oder einer tanzenden Schauspielerin zu interpretieren (eben Ida Rubinstein). Eumolpe wird von einem Tenor interpretiert und weiter ist nebst dem Ballettensemble ein Chor und ein Kinderchor beteiligt. Mit Ida Rubinstein gab es nach der Uraufführung am 30 April 1932 nur noch zwei Aufführungen und bis heute wird das Werk sehr selten aufgeführt. Peter Sellars hat es an mehreren Orten inszeniert, die Aufführung von Madrid ist hier zu sehen. Eine andere, ältere Version ist die Choreographie von Balanchine, hier mit einer kurzen Einführung von Vera Zorina, der Interpretin der Persephone (der die New Yorker auch Auftrittsapplaus spenden), und dirigiert von Strawinskys langjährigem Assistenten Robert Craft.

Unmittelbar nach Oedipus rex hat Strawinsky noch einen klassischen Stoff bearbeitet. Apollo (später auch Apollon musagète betitelt) setzt sich nach Strawinskys Worten mit der Versbildung auseinander. Das Werk, das für ein reines Streichorchester komponiert ist, kam 1928 in Washington zur ersten Aufführung. 1965 produzierte der NDR eine Fernsehfassung der Choreographie von Balanchine mit einem von Igor Strawinsky selbst dirigierten Soundtrack.

Das zentrale Werk der Periode ist aber ein reines Konzertwerk, die Symphonie de Psaumes, die Psalmensymphonie. Eine Aufnahme mit Kirill Petrenko findet sich selbstverständlich in der Digital Concert Hall. Hier gibt es eine von Daniel Harding dirigierte Aufführung zum 50-jährigen Jubiläum des einst für Karajan gegründeten Orchestre de Paris. Das Besondere ist die Zusammenstellung des Orchesters hauptsächlich aus Bläsern und gänzlich ohne Violinen. Wer das genauer verfolgen möchte, kann hier eine Aufnahme mit Solti hören und dazu die Partitur sehen (vorausgesetzt der Bildschirm ist groß genug).

Le baiser de la fée, uraufgeführt am 27. November 1928 in Paris, hat eine Sonderstellung in dieser Reihe. Ein Zusammenhang mit der aktuellen spirituellen Ausrichtung Strawinskys ist nicht so sehr zu erkennen, eher ist ein Parallele zu Pulcinella zu sehen. Jetzt ist es nicht Barockmusik, sondern Musik der unmittelbaren Vergangenheit, nämlich Tschaikowsky, die er als Vorlage nutzt. (Respighi hatte 1919 für Diaghilev und die »Ballets russes« Rossini verwendet in La boutique fantasque.) Le baiser der la fée (Der Kuss der Fee nach dem Märchen Die Schneekönigin von Andersen) war ein dezidierter Auftrag von Ida Rubinstein; es gab vorerst auch nur drei Vorstellungen in der Originalchoreografie von Bronislava Nijinska (der Schwester von Vaslav Nijnsky), aber die Musik wurde von anderen Choreografen aufgenommen, namentlich von Balanchine. Diese russische Filmversion von 1990 mit Vladimir Malakhov basiert auf einer Choreografie von Natalia Kasatkina und Vladimir Vasiliev.

Bis morgen, wir sehen uns!
Ihr Curt A. Roesler

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